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bull_01_03_Tradition

Credit Suisse bulletin, 2001/03

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TRADITION<br />

In den letzten Jahrzehnten haben sich die christlichen Amtskirchen<br />

beider Konfessionen tüchtig ungesundgeschrumpft. Der<br />

Schweizer Reformtheologe Hans Küng fürchtete schon längst,<br />

dass die katholische Kirche zu «einer unwahrhaftigen Kirche»<br />

werden könnte, in der «den entscheidenden Fragen der Menschheit<br />

ausgewichen wird, in welcher man gar nicht merkt..., wie<br />

weit man überkommene Meinungen und traditionelle Begriffshülsen<br />

als Wahrheit weiter tradiert und wie weit man sich in Lehre<br />

und Leben von der ursprünglichen Botschaft entfernt hat.»<br />

Hans Küngs Warnung scheint für eine Mehrheit der Bevölkerung<br />

zu spät platziert. Längst haben an den traditionellen Eckdaten<br />

des Christentums ausserkirchliche Organisationen die Betreuung<br />

der massenhaft vereinzelten Bürgerinnen und Bürger übernommen.<br />

Während um die Weihnachtszeit die Reisebüros mit Karibik-<br />

Angeboten Privilegierten die Kälte des Festes der Liebe ersparen,<br />

schieben die Heilsarmee, die Dargebotene Hand und Kriseninterventionsstellen<br />

Sonderschichten für viele, denen die Flucht an<br />

die Sonne nicht gelingt. An Ostern und Pfingsten regeln Strassenpolizei,<br />

Pannen- und Unfalldienste die zeitgemässe Tradierung<br />

der Hohen Feiertage zum Happening privaten Motorsports.<br />

Kirchliche Omnipotenz erschlafft<br />

Aber auch wenn die Omnipotenz der Amtskirchen langsam und<br />

stetig erschlafft, die christlichen <strong>Tradition</strong>en scheinen gleichzeitig<br />

neu entdeckt zu werden: Weihnächtliche Einkehr und Besinnungsveranstaltungen<br />

in reformierten Begegnungszentren erfreuen<br />

sich reger Nachfrage. Der Besuch der Mitternachtsmesse<br />

am 24. Dezember, als exotisches Event geplant, wird zum Erlebnis.<br />

Vorösterliches Fasten gerät zum sonderbar sinnhaften<br />

Ersatz für sündhaft teure Wellness-Wochen. In zunehmender<br />

Zahl finden wohlstandsübersättigte Schweizerinnen und Schweizer<br />

in die Ordnung des alten Kirchenjahres zurück, halten sich<br />

an christlichem Brauchtum fest und deklarieren es prompt als<br />

reines Gemeinschaftserlebnis ohne religiösen Hintergrund.<br />

Walter Hartinger, Ordinarius für Volkskunde an der Universität<br />

Passau, will diese Verlautbarungen in seiner Abhandlung «Religion<br />

und Brauch» nicht gelten lassen: «Wesenselement des<br />

Brauches ist es schliesslich, dass er nicht völlig in die Beliebigkeit<br />

des einzelnen Individuums gestellt ist, sondern dass Faktum<br />

und Form seiner Durchführung von der Sitte gefordert werden.<br />

Auch dadurch kommt gleichsam Religion ins Spiel.»<br />

auf religiöse <strong>Tradition</strong>en zurück. Mit einsamem Rationalismus<br />

kommt man nicht überallhin.»<br />

Binotto hat recht. Unzählige Seiten im Internet belegen die<br />

Belebung der alten Pilgerwege, die Attraktivität der Wallfahrtsorte<br />

quer durch Europa. Während Kirchgemeinden und spezialisierte<br />

Reiseunternehmen traditionsbewusstem Kirchenvolk einen<br />

durchorganisierten Ausflug nach Lourdes, Fatima oder Altötting<br />

im Netz als Fast-Food-Kontemplation und religiös legitimierten<br />

Auslandtripp verkaufen, machen sich Organisationen und einzelne<br />

Pilgerinnen und Pilger Seite um Seite auf unterschiedlichste<br />

Art und Weise für den langen Marsch nach Santiago de Compostela<br />

stark.<br />

Für Einsiedeln gibt ein zermanschter Tomatenkopf, als satt<br />

lächelnder Pater Pilgrim, Tipps für die Etappen von und nach<br />

der Kloster-Metropole. Sehr sachbezogen verkündet das Paterchen<br />

den wissbegierigen Usern und Userinnen: «Unter dem<br />

Jakobsweg versteht man den mittelalterlichen Pilgerweg zum<br />

(angeblichen) Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela.<br />

Aus ganz Europa zogen während Jahrhunderten Hunderttausende<br />

von Pilgern nach Santiago, sodass man durchaus<br />

von einem touristischen Massenphänomen sprechen kann.<br />

Einsiedeln war damals ein bekannter Wallfahrtsort und bedeutender<br />

Zwischenhalt für die Jakobspilger nördlich und östlich der<br />

Schweiz.»<br />

Die grossen Pilgerwege vereinigen sich<br />

jenseits der Pyrenäen zum «camino francés».<br />

Religiöse <strong>Tradition</strong>en leben auf<br />

Religion im Spiel ist auch bei einer Neuerscheinung des Comenius-Verlags<br />

im luzernischen Hitzkirch, der mit dem Titel «Gewusst<br />

wie und woher – Christliches Brauchtum im Jahreslauf»<br />

aufwartet. Der Autor, Thomas Binotto, Redaktor des Forums,<br />

des Pfarrblattes der katholischen Kirche im Kanton Zürich, erklärt<br />

nüchtern: «Jeder Mensch kommt irgendeinmal in eine Situation,<br />

in der ihm die Kontrolle über das Leben entgleitet; dann greift er<br />

Fotos: Pia Zanetti, Hans-Chr. Inniger<br />

Santiago de<br />

Compostela<br />

León<br />

1<br />

Paris<br />

Aachen<br />

Nürnberg<br />

Tours<br />

Vézaley<br />

Konstanz<br />

3 Bourges Fribourg<br />

2 Einsiedeln<br />

Limoges Lyon<br />

Bordeaux<br />

Genève 1 Niedere Strasse<br />

4 Le Puy<br />

2 Obere Strasse<br />

Valence<br />

3 Via Touronensis<br />

5<br />

4 Via Lemovicensis<br />

Toulouse 6 Arles<br />

5 Via Podensis<br />

Burgos<br />

Ostabat<br />

6 Via Tolosana<br />

2

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