Tabu <strong>Tradition</strong>sbruch Wer <strong>Tradition</strong>en missachtet, beschleunigt den Wandel; doch das tut niemand ungestraft. Text: Karin Burkhard Wollten mit alten Männertraditionen aufräumen: Iris von Roten (links) und Emilie Kempin-Spyri
TRADITION Es war eine ganz einfache, aber gepflegte, weiss gestrichene Holzkirche im typisch neuenglischen Stil, in der Estelle und Hannes heirateten. Und obschon die Festgemeinde nur aus dem «Town Clerk» des kleinen Dorfes in Vermont und dem Traupaar aus der Schweiz bestand, gab sich der Pfarrer grösste Mühe, die Feier würdevoll zu gestalten. Dabei hatte ihn Estelle kurz vor der Zeremonie noch verärgert, weil sie im Ehegelübde das «...bis der Tode euch scheidet» herausstreichen wollte. Eine kirchliche Trauung hatten die beiden allerdings gar nicht vorgesehen. Doch der Reihe nach: Estelle und Hannes waren seit langem ein Liebespaar, zögerten aber, diese Liebe in einer Institution festzuschreiben und so möglicherweise zu ersticken. Doch auf einer Ferienreise durch Neuengland kam das Thema Heiraten dann doch nochmals auf – und wurde in einem Moment grosser Emotionalität mit Ja beantwortet. Und nun wirkte der Zufall als Beschleuniger. Als sie nämlich im nächsten Dorf tankten, sahen sie auf der anderen Strassenseite ein Schild mit der Aufschrift «Town Clerk». «Kann man hier eine Heirat beantragen?», fragte Estelle schüchtern. Darauf der angegraute Beamte: «Baby, you are in the right place!» Fotos: André Muelhaupt, Pia Zanetti aus dem Buch «Die Wachsflügelfrau», Evelyn Hasler, Verlag Nagel & Kimche Die betrogene Mutter Weil die beiden niemanden in Vermont kannten, aber zwei Trauzeugen brauchten, organisierte der freundliche Gemeindeschreiber, der sich netterweise zur Verfügung stellte, auch noch den Pfarrer seiner Basiskirche, was dieser, ganz pfarrherrlich, so deutete, dass die beiden auch eine kirchliche Trauung wünschten. Wieder in der Schweiz stellte Estelle fest – sie war alleine zurückgereist, während Hannes noch seine Nachdiplomstudien in den Staaten beendete –, dass ihre Spontanheirat nicht alle gleichermassen begrüssten. Estelles Mutter verfiel gar in eine tiefe Depression und warf ihrer Tochter vor, sie nicht nur um einen grossen Tag, sondern auch um die «Hohe Zeit» vor der Hochzeit betrogen zu haben: «So etwas macht man nur in ganz schäbigen Familien!» Mit dieser Erfahrung ist Estelle nicht alleine. <strong>Tradition</strong>en brechen, schafft Irritationen, ob das nun das private oder das öffentliche Leben betrifft. Denn nichts Bequemeres, als sich auf <strong>Tradition</strong>en zu berufen; <strong>Tradition</strong>en als Weitergabe von Sitten, Bräuchen und Konventionen. Weitertragen von Althergebrachtem erfordert keinerlei Legitimation und entbindet von jeglicher Denkarbeit: Weil es immer so war, muss es immer so bleiben. Der <strong>Tradition</strong>sbruch und die Ablehnung der damit verbundenen Rituale ist deshalb oft auch ein Tabubruch – und der wiegt schwer. Estelle konnte den Schaden in der Familie erst wieder reparieren, als sie die Taufe ihres Sohnes wie ein traditionelles Hochzeitsfest zelebrierte. Dass man mit <strong>Tradition</strong>en nicht ungestraft bricht, haben in der Geschichte vor allem jene Frauen gespürt, die mit alten Männertraditionen aufräumen wollten. Allen voran die Vorkämpferinnen der Frauenrechte, die die Vorherrschaft der Männer in Politik und <strong>Tradition</strong> Hochzeit: Zwist ist vorprogrammiert Arbeitswelt anfochten. Ihnen ist Ungeheuerliches widerfahren, viele sind daran zerbrochen. Emilie Kempin-Spyri (1853–19<strong>01</strong>) etwa, die weltweit erste Juristin, musste zwölf Jahre nach ihrem hervorragenden Studienabschluss («summa cum laude») um die Stelle einer Dienstmagd betteln, weil es ihr verunmöglicht wurde, als Juristin zu arbeiten. Frauen seien als solche in der Berufswelt nicht vorgesehen, wurde ihr wiederholt beschieden. Und das Bundesgericht in Lausanne, an das sie sich in ihrer Verzweiflung wandte, hielt 1887 fest: «Wenn nun die Rekurrentin zunächst auf Art. 4 der Bundesverfassung («Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich», Anm. d. Red.) abstellt und aus diesem Artikel scheint folgern zu wollen, die Bundesverfassung postulire die volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter auf dem Gebiete des gesamten öffentlichen und Privatrechts, so ist diese Auffassung eben so neu als kühn; sie kann aber nicht gebilligt werden.» Nicht viel besser ist es Iris von Roten (1917–1990) ergangen, die rund siebzig Jahre später gegen die Männervorherrschaft rebellierte. Sie forderte nicht nur das Recht, als Anwältin tätig sein zu können, sie wollte zusätzlich eine ganze Reihe von politischen und gesellschaftlichen Frauenrechten durchsetzen. In ihrem umfangreichen Emanzipationswerk «Frauen im Laufgitter» (1958) zeigte sie auf, wie die Frauen hierzulande, weil es die Sitten und Bräuche angeblich so wollten, dazu verdammt Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong> 21