«Seide ist Sinnlichkeit pur» Seide schimmert sanft und liegt leicht auf der Haut. Seide ist der Stoff, aus dem Geschichten sind. Seide ist Luxus pur. Rosmarie Gerber, Redaktion Bulletin
LUST UND LASTER Foto: Eva-Maria Züllig Die grossen Designer in New York, Mailand und Paris haben dem Gammel-Look in letzter Zeit die rote Karte gezeigt. Die Seidenweber und -drucker atmen nach herben Jahren auf: Luxus und Eleganz stehen auf dem Programm, der edelste aller Stoffe ist wieder gefragt. Wenn Christian Lacroix, Ungaro, Yves Saint-Laurent, Gaultier, Dolce e Gabbana, Versace, Vivienne Westwood, Helmut Lang und Co. den Schönen, Reichen und der Massenkonfektion ihre Ver-Kleidung für die Saison des nächsten Jahres verschreiben, sind oft auch – ungenannt – die Seidenhäuser aus der Ostschweiz auf dem Laufsteg: Die Trudel AG und die Desco von Schulthess AG als Importeure von Rohgeweben und Rohseide. Weisbrod-Zürrer in Hausen am Albis, die Gessner AG in Wädenswil und Trudel als Hauptaktionärin der Weberei Bosetti in Como mit ihren Stoffen, die Seidendruckerei Mitlödi aus dem Glarnerland und schliesslich die Abraham AG und Fabric Frontline als Zürcher Converter, Entwerfer von Stoffen für die Haute Couture und die gehobene Konfektion. Und die frühere Seidentrocknungsanstalt, die Testex, die europaweit Qualitätsstandards für Rohseide entwickelt und als Textilprüfer international renommiert ist, dürfte im Hintergrund ihren Teil zur einen oder andern Robe beigetragen haben. Seidenherren reden von Liebe «Was hauptsächlich zählt», gibt Max Frischknecht, Direktor der Weberei Gessner AG im zürcherischen Wädenswil, zu bedenken, «sind Liebe und Hingabe.» Die Webereien Gessner und Weisbrod sind die letzten Unternehmen der einst prosperierenden Ostschweizer Seidenindustrie. «Für durchschnittliche Kleider können wir nicht produzieren, auch wenn das Stück an der Stange 800 Franken kostet, dafür sind wir zu teuer», konstatiert Urs Spuler, der Direktor der Seidendruckerei Mitlödi im Glarnerland.» Und Weisbrod-Zürrer, der in Hausen am Albis Jacquard-Stoffe und Seide für die Damenoberbekleidung webt, beklagt die sinkende Popularität des Nobelstoffes. Langzeitig bekümmert gibt sich auch der Doyen des Hauses Abraham, der Kunstsammler Gustav Zumsteg. Er zitierte bereits in den späten Achtzigern den Modeschöpfer Balenciaga: «Angesichts der Armut der Bedüfnisse der Frauen ist meine Rolle zu Ende gespielt» und wollte eigentlich seinen Abschied zelebrieren. Aber Gustav Zumsteg ist der Abschied nicht gelungen. «Seide ist Sinnlichkeit pur», dröhnt dagegen André Stutz, ein neuzeitlicher Klon der grossmächtigen Zürcher Seidenbarone von einst, und verkauft sein Label Fabric Frontline quer durch die Printmedien, auf jedem TV-Kanal von Tokio bis Bern Bümpliz und an jeder zweiten Schickeria-Fete. Die Botschaft des füllig-barocken Newcomers ist zeitgerecht formuliert, aber eigentlich steinalt. Seit dem 16. Jahrhundert haben Zürcher Seidenbarone Wirtschaftsgeschichte geschrieben, international agiert und diskret und nachhaltig lokale Geschicke diktiert. Die Verdikte der Ostschweizer Seidenherren sind Vergangenheit. 1843 beschäftigten die Zürcher Seidenbarone 18 000 Arbeiterinnen und Arbeiter, 1999 waren im Seidenhandel, den Webereien und Druckereien gerade noch 600 Personen beschäftigt. Und – einige hundert Jahre nehmen sich kläglich aus, wenn es um die Geschichte des einzigen Stoffes geht, der die thermischen Eigenschaften einer zweiten Haut hat. Seit gut 2000 vor Christus wird in Literatur, Gesellschaft und Mode der Mythos «Seide ist Sinnlichkeit pur» zelebriert. Seit gut 4000 Jahren steht Seide für Luxus, Laster und Hochkultur und verlangt Hingabe, Präzision, Feingefühl und unendliche Mühen. Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong> 63