«Das Tessin hat sich von der Sonnenstube zum attraktiven Wirtschaftsstandort gemausert», sagt Sara Carnazzi, Economic Research & Consulting. Ein Kanton sprengt Grenzen
ECONOMICS & FINANCE FINANCIAL SERVICES Das Tessin ist weit mehr als nur beliebte Feriendestination für zahlungskräftige Deutschschweizer. Fast unbemerkt vom Rest der Schweiz entwickelt sich der Südkanton zum gefragten Wirtschaftsstandort, der Investoren aus dem In- und Ausland anlockt. Sara Carnazzi, Economic Research & Consulting Fotos: Peter Tillessen Denkt man ans Tessin, so überwiegen nördlich der Alpen noch immer Assoziationen von lauen Sommernächten in Strassencafés und gemütlichen Grottobesuchen. Das Klischee der Sonnenstube wurzelt tief. Natürlich ist das Gastgewerbe nach wie vor ein wichtiger Sektor der Tessiner Wirtschaft. Der Kanton hat es jedoch verstanden, im Laufe der Jahre zu diversifizieren und seine Branchenstruktur zu bereichern, indem er sich auf wettbewerbsfähige Industriezweige ausgerichtet hat, welche zum dynamischen Sektor der Finanzdienstleistungen hinzukommen. In der Schweiz wird der Sonderstatus des Tessins oft verkannt. Institutionell betrachtet gehört der Kanton Tessin zwar zur Schweiz, sprachlich und kulturell jedoch zu Italien. Mailand lockt und beängstigt zugleich Wenn auch in vielerlei Hinsicht vom italienischen Nachbarn angezogen, spürt man im Tessin oft ein Unbehagen gegenüber Italien. Verständlich, wenn man bedenkt, dass allein der Grossraum Mailand 13-mal mehr Einwohner hat als das ganze Tessin (Abbildung 2). Vor diesem Hintergrund ist auch die Ablehnung der bilateralen Verträge zu deuten. Viele Tessiner befürchteten, dass dem norditalienischen Wirtschaftskoloss die Schleusen geöffnet würden. Definiert man eine grenzüberschreitende Makroregion, die das Tessin und die norditalienischen Regionen Lombardei, Piemont, Valle d’Aosta, Veneto und Trentino Alto Adige umfasst, so wäre dieser hypothetische Staat mit seinen rund 20 Millionen Einwohnern hinsichtlich des Bruttoinlandprodukts und des Pro-Kopf- Einkommens einer der reichsten Europas. Das Schicksal des Tessins und der italienischen Regionen, die nur durch eine politische Grenze voneinander getrennt sind, ist im Gefolge der Globalisierung wieder miteinander verflochten. Und dies unabhängig von den Fortschritten der europäischen Einigung. Das Tessin sollte den norditalienischen Wirtschaftsraum nicht als Bedrohung sehen, sondern als zusätzliches Einzugsgebiet mit dynamischen und kaufkräftigen Märkten, in denen es als ergänzender Partner auftreten kann. Der Tessiner Arbeitsmarkt war für italienische Arbeitskräfte schon immer sehr attraktiv, und das Phänomen der Grenzgänger prägt seit Jahrzehnten die Wirtschaft des Kantons (siehe Box). Aber auch bei den Handelsströmen sind die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Tessin und Italien ausgeprägt. Der Anteil Italiens an den Exporten des Tessins beträgt 27,6 Prozent. Bei den Importen deckt Italien hingegen 63,3 Prozent des Tessiner Bedarfs ab. Ein Vergleich mit dem entsprechenden Landesdurchschnitt lässt die Bevorzugung des italienischen Handelspartners deutlich hervortreten: Der Anteil Italiens an den schweizerischen Exporten liegt bei 7,3 Prozent, derjenige an den Importen in die Schweiz bei 9,6 Prozent. DER OFFENE ARBEITSMARKT: DIE ROLLE DER GRENZGÄNGER Jeden Morgen drängen über 30 000 Grenzgänger aus Italien ins Tessin. Sie decken knapp 20 Prozent der Gesamtbeschäftigung im Kanton ab und machen 75 Prozent der dort tätigen ausländischen Arbeitskräfte aus. Im Schweizer Durchschnitt liegt der Anteil der Grenzgänger an den Beschäftigten bei vier Prozent. Die Verbesserung der Konjunkturlage im Laufe des Jahres 2000 hat dem Phänomen der Grenzgänger südlich der Alpen nach neun Jahren ununterbrochenen Rückgangs neuen Schub verliehen. Seit jeher spielen Grenzgänger im Tessin die Rolle eines Konjunkturpuffers. Das grosse Reservoir an wenig qualifizierten und billigen Arbeitskräften hat in der Vergangenheit die Ansiedlung von Produktionstätigkeiten mit geringer Wertschöpfung im Tessin begünstigt, was die Branchenstruktur geprägt und in Krisenzeiten anfälliger gemacht hat. Die Abschwächung der Lohnunterschiede zwischen Italien und der Schweiz hat das Tessin für solche Produktionstätigkeiten weniger attraktiv gemacht. Das hat einen Teil der Tessiner Unternehmen veranlasst, Arbeit durch Kapital zu ersetzen, was zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit beigetragen hat. Damit wandelt sich auch das Gesicht der Grenzgänger: Die Zahl höher qualifizierter Arbeitskräfte steigt an. Die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über den freien Personenverkehr verändern den Grenzgängerstatus. Es sind nur noch eine wöchentliche und nicht mehr eine tägliche Rückkehr an den Wohnsitz sowie die Einführung der geografischen und beruflichen Mobilität vorgesehen. Viele fürchten sich vor Lohndumping und massivem Zustrom italienischer Arbeitskräfte. Dennoch bringt die Annäherung an Europa dem Tessin mehr Vor- als Nachteile. Die im Oktober 2000 publizierte Regionalstudie «Tessin und die Regionen Norditaliens. Struktur und Perspektiven» kann über http://<strong>bull</strong>etin.creditsuisse.ch/service/shop/ger/privat/economic_research/ bestellt werden. Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong> 37