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TRADITION Fotos: André Muelhaupt Iris von Roten «Statt Abenteuer gab es für die jungen Mütter nur quengelnde Säuglinge.» waren, ein ziemlich kümmerliches Leben zu führen: «Wilde Abenteuer, lockende Ferne, tolle Kraftproben, Unabhängigkeit, Freiheit, das schäumende Leben schlechthin, schien in Tat, Wort und Schrift den Männern vorbehalten zu sein. Für die heranwachsenden Mädchen aber sah es aus, als ob sie bei Stricken, Kochen und Putzen und in Gesellschaft von quengelnden Säuglingen eine Art zweiter Kindheit von bodenloser Langeweile zu erwarten hätten. Da trat an Stelle des Vaters einfach ein Ehemann, der ebenfalls befehlen konnte, weil er bezahlte.» Männliches Machtmonopol gefährdet Das war starker Tobak für die Schweizer Männer. Iris von Rotens gleichermassen brillante wie radikale Abrechnung mit dem herrschenden Männerkollektiv brüskierte selbst jene, die ihr grundsätzlich nahe standen. Denn sie zeichnete das Patriarchalische, das alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdrang, so minutiös und für ihre Zeit so ungewöhnlich klarsichtig nach, dass damals übliche Redensarten wie «Wenn wir nur schön zusammenspannen…» als naives Geschwätz entlarvt wurden. Für die Frauen hiess das: Ihre Lebenslüge war in Gefahr. Und für die Männer: Ihr Machtmonopol wurde in Frage gestellt. Kein Wunder, dass von beiden Seiten blindwütig geschossen wurde. Erstaunlich war nur das Ausmass dieser Blindwütigkeit. Die Buchrezensionen reichten von bösartigen Unterstellungen bis hin zu überspannten Verrissen, die sich im Nachhinein so lesen, als sei gar nicht von «Frauen im Laufgitter» die Rede, sondern von einem Pornobuch oder einer Anleitung zum Männergenozid. Erst viele Jahre später, 1991, ist «Frauen im Laufgitter» neu aufgelegt worden – und wurde sofort zu einem Bestseller. Denn in den Neunzigerjahren war die Zeit reif für Frauenanliegen. In der Tat sind viele Forderungen, die Iris von Roten in den Fünfzigern aufstellte und die damals als anmassende Attacken auf Männervorrechte galten, in der Zwischenzeit längst erfüllt. Iris von Roten hat ihre Rehabilitierung und den Grosserfolg ihres Werks nicht mehr erlebt. Genauso wenig wie ihr Mann, Peter von Roten, der ihren Erfolg jedoch vorhersah: «Dein Buch wird noch in 2000 Jahren gelesen. Aber ich sage das nicht unüberlegt, sondern im Ernst … ein für seine Zeit bahnbrechendes Werk wie die Bücher des Kopernikus oder des Keppler.» Doch selbst Polittraditionen sind nichts Statisches. In den vergangenen Jahren jedenfalls hat – und da sind die mutigen Vorkämpferinnen wohl nicht ganz unschuldig – eine wohltuende Öffnung stattgefunden. Selbst die sakrosankten Institutionen unseres Staatskörpers dürfen heute einer Leibesvisitation unterzogen werden, ohne dass der Urheber der Kritik gleich geköpft wird. Das hat sich unlängst bei der Auseinandersetzung mit Walter Wittmanns neustem Œuvre «Direkte Demokratie – Bremsklotz der Revitalisierung» gezeigt. Sicher, es gab die blasierten Stimmen, die nur abwiegelten, aber es gab auch eine intelligente Debatte über die bedenkenswerten Punkte in Wittmanns Polemik. Ähnliches gilt für den Diskurs über die schweizerische Neutralität oder die nicht mehr ganz so heilige Zauberformel. Erst kaltgestellt, dann gefeiert Eine vergleichbare Öffnung ist derzeit auch in der Schweizer Wirtschaft zu beobachten. Wer nicht zum Establishment gehört, nicht in einer traditionellen Männerbündelei verankert ist, hat zwar nach wie vor einen schweren Stand, findet seltener Gehör und bleibt, auch wenn er finanziell erfolgreich ist, ein Aussenseiter – jüngstes Beispiel ist der Financier René Braginsky –, doch derzeit wird mit vielen <strong>Tradition</strong>en gebrochen. Dazu gehört das grosse Schweigen rund um die Löhne, das über Generationen in der Schweizer Arbeitswelt zu den Konventionen zählte, die man nicht antasten durfte. Sei es unter dem Druck der Globalisierung oder neuer Gesetzgebungen, Tatsache ist, dass die Extreme an beiden Enden, die schamlos hohen und die schäbig tiefen Gehälter, im Moment kritisch hinterfragt werden. Noch immer recht rigide funktioniert der Wissenschaftsbetrieb. Forscher, die sich nicht an die gängigen Thesen halten und mit bewährten Forschungstraditionen brechen, werden erst einmal kaltgestellt. Das ist jedoch keineswegs nur ein schweizerisches Phänomen. «Die Wissenschaft reagiert nicht sehr flexibel auf neue Erkenntnisse», sagt Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker und einer der profiliertesten Wissenschaftskritiker Deutschlands, «auf diese Weise bremst sie den Fortschritt eher, als dass sie ihn vorantreibt.» Er selber erlebt das momentan in der BSE- Forschung, die unbequeme Erkenntnisse «einfach unterschlägt». Und so sei es kein Wunder, dass der «Fortschritt schon immer von Leuten gekommen ist, die nicht zum System gehört haben»: von Galileo Galilei über Charles Darwin bis Albert Einstein oder Werner Forssmann. Letzterer hatte bahnbrechende neue Methoden der Behandlung von Herzkrankheiten aufgezeigt, die bei den arrivierten Wissenschaftern erst nur Kopfschütteln auslösten. «Mit solchen Kunststücken habilitiert man sich im Zirkus und nicht an einer anständigen Klinik», beschied ihm Kollege Ferdinand Sauerbruch. 1956 wurde Forssmann für seine Verdienste mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Für eine vitale Schweiz braucht es deshalb nicht nur aufgeschlossene <strong>Tradition</strong>alisten, sondern auch mutige <strong>Tradition</strong>sbrecher. Sie sorgen dafür, dass nicht jene gefährliche Behaglichkeit aufkommt, die so oft in Selbstgefälligkeit und Stagnation mündet. Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong> 23