GSa146_190410-Web-Einzelseiten
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Thema: 100 Jahre Grundschule. Ein Grund zum Feiern?<br />
Reinhard Stähling / Barbara Wenders<br />
Vertieft lernen dürfen<br />
Langformschule von 1 bis 10 als »Schule ohne Schulversagen«<br />
»Wem unser Programm zu erhaben erscheint, der soll daran denken, dass man<br />
stark aufsteigen und hoch empor fliegen muss – um dann langsam sinkend,<br />
dennoch viel Weg zurückzulegen. Wem unser Programm vielleicht zu phantastisch<br />
erscheint, der soll daran denken, dass ein eiserner Motor alleine nicht<br />
genügt, um in der Höhe zu schweben, sondern auch – Flügel sind nötig …«<br />
(Janusz Korczak: Zur Eröffnung des Dom Sierot, 1913, SW Bd. 9, 199 f.)<br />
»Ich habe nicht alles kapiert«<br />
»Seit 20 Jahren bleiben etwa 15 % eines<br />
Altersjahrgangs der nachwachsenden<br />
Generation ohne eine Ausbildung in<br />
einem anerkannten Ausbildungsberuf.<br />
Dies ist der niedrigste Wert in der<br />
Geschichte des beruflichen Bildungswesens<br />
in Deutschland« (Rademacher<br />
2011). 2015 haben 47 435 Jugendliche<br />
ihre Schule ohne Schulabschluss verlassen.<br />
Laut Caritas-Studie stieg diese<br />
Quote 2017 bundesweit von 5,7 %<br />
auf 5,9 % noch an (vgl. Liessem 2017).<br />
Über 5000 junge Menschen verließen<br />
2017 in NRW die Schule ohne jeglichen<br />
Abschluss. Sie können kaum sinnentnehmend<br />
lesen oder einfache Sätze<br />
schreiben und beherrschen die Grundrechenarten<br />
nicht. Wie konnte es dazu<br />
kommen?<br />
a) Sind Lehrer fachdidaktisch nicht<br />
genug befähigt?<br />
b) Sind Lehrer für das Schulversagen<br />
verantwortlich?<br />
c) Gibt es Möglichkeiten für die Lehrer,<br />
innerhalb des Schul-Systems, das Schulversagen<br />
zu verhindern?<br />
d) Wie soll die einzelne Schule geändert<br />
werden, damit Schulversagen vermieden<br />
wird?<br />
a) Fachdidaktische Kompetenzen<br />
der Lehrer<br />
Kann ich als Lehrer dazu beitragen, dass<br />
Kinder den »Stoff« verstehen, wenn ich<br />
ihn selbst nicht sicher beherrsche? Hier<br />
ist die Fachlichkeit gefragt.<br />
Aber die hier angesprochene fachliche<br />
Erfahrung ist nicht gleichzusetzen<br />
mit dem Studium des Faches. Um Schülern<br />
beim Lernen sinnvolle Unterstützung<br />
geben zu können, brauchen Lehrer<br />
Erfahrungen und Kenntnisse über<br />
»stoffliche Hürden« (vgl. Meyerhöfer<br />
2011) des Fachgebietes und »kritische<br />
Stellen im Lernprozess« (vgl. Bartnitzky<br />
u. a. 2013). Diese Erfahrungen gewinnen<br />
sie in der verlässlichen pädagogischen<br />
und fachlichen Beziehung. Welcher<br />
Gedanke steckt z. B. hinter der fehlerhaften<br />
Zahlenreihe eines Kindes, das<br />
folgendermaßen in Schritten zählt: 500,<br />
600, 700, 800, 900, 1000,2 000, 3000 …<br />
und dann schließlich bei 9900 als nächstes<br />
die 100.000 erwartet? An welchen<br />
Stellen scheitern immer wieder die Lernenden,<br />
wenn sie sich einen Lerngegenstand<br />
aneignen? Mit welchen Fehlern<br />
rechnen wir als Lehrer? Was sagen diese<br />
Fehler darüber aus, wie das Kind etwas<br />
versteht?<br />
Das fachliche Lernen ist in manchen<br />
Klassen zu einer Fassade erstarrt, einer<br />
Karikatur seiner selbst. Es dient nicht<br />
dem Lernen, sondern es gleicht einem<br />
»Durchnehmen des Stoffes«, um es im<br />
Klassenbuch dokumentieren zu können,<br />
dass »wir es gemacht haben«.<br />
Lernen und Unterrichten<br />
sind ein Unterschied<br />
Wenn Lehrer sagen, sie hätten das Fach<br />
nicht studiert, wollen sie vielleicht ausdrücken,<br />
dass sie als »Unterrichtende«<br />
ihren »zu unterrichtenden Schülern«<br />
»nicht genug Stoff bieten können<br />
«, z. B. im Fach Musik, weil sie selbst<br />
kein Instrument spielen. Sie haben den<br />
Anspruch, »Meister in ihrem Fachgebiet«<br />
zu sein und als Meister sollten sie<br />
den Lehrinhalt beherrschen. Sie möchten<br />
ihn überzeugend vortragen und es<br />
den Schülern überlassen, den Inhalt<br />
zu begreifen. In diesem alten Bild vom<br />
Lernen in guten Beziehungen<br />
Lehrmeister sieht die Lehrperson ihre<br />
Aufgabe nicht darin, einen Prozess zu<br />
erzeugen, der das Lernen bewirken<br />
kann, sondern darin, den Schüler zu<br />
»unterrichten«. Aktiv sind die Lehrer,<br />
die passive, entgegennehmende Rolle<br />
haben die Schüler. Ein Landesmeister<br />
im Turnen kann seinem Schützling<br />
den Handstandüberschlag beibringen,<br />
ein Klaviervirtuose kann einem Anfänger<br />
das Klavierspiel beibringen, so sieht<br />
es der Nicht-Fachmann. Jedoch weiß<br />
jeder, dass es auch Meister gibt, die<br />
nicht gut vermitteln können.<br />
Richtig an diesem Vergleich ist, dass<br />
es sinnvoll ist, wenn eine Lehrperson<br />
sich selbst der Materie gestellt hat und<br />
eigene Erfahrungen damit hat. So sollte<br />
eine Lehrperson, die von ihren Schülern<br />
verlangt, dass sie einen freien Text<br />
schreiben, selbst Schreiberfahrungen<br />
mitbringen, um sinnvoll zum Schreiben<br />
ermutigen zu können.<br />
Da das Lernen ein aktiver Vorgang ist,<br />
geht es bei einem effizienten Lernprozess<br />
darum, dass die Schüler selbst tätig sind.<br />
Das Kerngeschäft ist dabei, die Schüler<br />
zu unterstützen und ihnen die Ängste<br />
zu nehmen. Dafür muss die Lehrperson<br />
nicht das Fach studiert haben, wohl<br />
aber muss sie den fachlichen Problemen<br />
der Schüler mit der Aufgabenstellung<br />
gegenüber offen sein, sie am besten<br />
selbst erfahren haben und antizipieren<br />
können, kurz die »stofflichen Hürden«<br />
kennen. Fachliches Wissen und Erfahrungen<br />
und vor allem die eigene intellektuelle<br />
Fähigkeit können helfen, die<br />
GS aktuell 146 • Mai 2019<br />
23