Berliner Zeitung 18.05.2019
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4 18./19. MAI 2019<br />
Mina Stern lebt seit 66 Jahren in<br />
NewYork, doch das Englische<br />
macht ihr bisweilen noch immer<br />
Mühe.Manchmal fällt ihr<br />
nicht gleich die richtige Vokabel ein, wenn<br />
sie eine Geschichte erzählt, Worte wie<br />
„Waschküche“, die sie dann einfach auf<br />
Deutsch sagt. Das „th“ bekommt sie auch<br />
nicht so recht hin, und wenn sie Ortsnamen<br />
aus ihrer einstigen Heimat wie „Gedern“<br />
oder „Amöneburg“ sagt, dann klingt noch<br />
immer ein dickes Oberhessisch durch.<br />
Sehnsucht nach Hessen hat Mina Stern<br />
jedoch nicht. Im Gegenteil. Sie ist nicht ein<br />
einziges Mal inDeutschland gewesen, seitdem<br />
sie 1952 hier in NewYorkangekommen<br />
ist. „Ich hasse Deutschland“, sagt sie mit Inbrunst.<br />
Dabei vertiefen sich die Furchen auf<br />
ihrem 96 Jahre alten Gesicht, das ansonsten<br />
eine warme Offenheit ausstrahlt.<br />
Mina Stern sitzt in der Kantine des jüdischen<br />
Gemeindezentrums an der Nagle Avenue<br />
und nippt an ihrem Kaffee. Sie kommt<br />
jeden Taghierher zum Seniorenessen und<br />
bleibt dann oft den Nachmittag. Es gibt Kaffee<br />
und Kuchen, manchmal auch Konzerte<br />
und immer die Gesellschaft ihrer Altersgenossen.<br />
An ihrem Tisch sitzen dann zum Beispiel<br />
Walter Kern und Margot Neuburger, beide<br />
sind wie Mina über90. Auch sie sind als Juden<br />
in Deutschland geboren, in Worms und Berlin,<br />
sind den Nazis entkommen und in jener<br />
Gegend im Norden vonManhattan gelandet,<br />
die Washington Heights heißt. Undwie Mina<br />
sind sie hier hängen geblieben.<br />
Es gibt nicht mehr viele von ihnen, den<br />
Deutsch-Juden von Washington Heights, ein<br />
paar Dutzend vielleicht. Diedeutsche BäckereiGideons<br />
an der Dyckman Street hat Anfang<br />
der 90er-Jahregeschlossen, ebenso das KaufhausWertheimer<br />
und das Lokal„Nasch“. Spuren<br />
deutsch-jüdischen Lebens muss man<br />
heute suchen in den Heights, wozwischen<br />
1936 und 1955 etwa 30 000 deutsche Juden<br />
Zuflucht gefunden haben.<br />
Doch man findet sie noch, die Spuren. In<br />
der Eingangshalle des Hebrew Tabernacle<br />
etwa, der Reformsynagoge an der Fort Washington<br />
Avenue. Dort hängen sepiafarbene<br />
Fotos und Zeichnungen der prachtvollen<br />
deutschen Synagogen, die 1938 zerstört wurden.<br />
Die Fort Washington Avenue läuft als<br />
Hauptader durch dasViertel, das sich, für New<br />
York ganz uncharakteristisch, in zwei felsigen<br />
Höhenzügen zwischen den beiden Flüssen<br />
erhebt, die hier oben rechts und links das nur<br />
wenige Hundert Meter schmale Manhattan<br />
umspülen.VomFortTryon Park,amhöchsten<br />
Punkt der Insel, blickt man mehr als 150 Meter<br />
tief über den Hudson zur einen und den Harlem<br />
River bis zur Bronx auf der anderen Seite.<br />
Nicht unähnlich dem Rhein auf seinem Weg<br />
in die Nordsee rollt der Hudson hier träge<br />
dem Atlantik und der Freiheitsstaue entgegen.<br />
Dasmittelalterliche Kloster,dass der Ölmilliardär<br />
John D. Rockefeller aus Frankreich<br />
geholt und hier oben wieder aufgebaut hat,<br />
verstärkt das Gefühl, in der alten Welt und<br />
nichtinNew York zu sein.<br />
Auch hier oben im Fort TryonParkfinden<br />
sich noch Spuren der deutsch-jüdischen<br />
Einwanderer. Im Schatten großer alter<br />
Ahornbäume sind Messingplättchen in die<br />
Parkbänke eingeschraubt, mit Widmungen<br />
wie jener, die der ehemalige amerikanische<br />
Außenminister Henry Kissinger seinem Vater<br />
Louis hinterlassen hat. Es ist ein Rilke-Zitat,<br />
mit dem der 1923 in Fürth geborene Kissinger,der<br />
auch in Washington Heights seine<br />
Jugend verbracht hat, seiner Eltern gedenkt:<br />
„Sieh: ich fühle, wie ich mich entferne, wie<br />
ich Altes,Blatt um Blatt, verlier.Nur dein Lächeln<br />
steht wie lauter Sterne über dir und<br />
bald auch über mir.“<br />
Kissinger ließ sich von den Nazis seinen<br />
Rilke nicht nehmen. So wie Mina Stern bis<br />
heute das Oberhessische nicht loswird, weil<br />
es doch genauso Teil von ihr ist wie ihr<br />
Judentum. Doch es ist ein Teil, der schmerzt.<br />
Denn wie soll schon eine Frau zu Deutschland<br />
stehen, der im Alter von fünfzehn Jahrendie<br />
Elternweggenommen und ermordet<br />
wurden und die nach einer mehr als zehnjährigen<br />
Odyssee durch Gettos,Konzentrations-<br />
und Flüchtlingslager alleine und mittellos<br />
im NewYorker Hafen ankam.<br />
Dabei zog esMina Stern nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg, den sie im Ghetto von Riga<br />
überlebt hatte,zuerst zurück nach Frankfurt<br />
am Main. „Wo sollten wir auch sonst hin, es<br />
war ja unsereHeimat.“ Doch in der einstigen<br />
Heimat gab es nichts mehr für sie: „Es waren<br />
ja alle tot. Es war keiner mehr übrig.“<br />
Sieben Jahrebrachte sie noch in AuffanglagerninFrankfurtund<br />
Amöneburgzu, dort<br />
lernte sie auch ihren Mann kennen und<br />
brachte zwei Kinder zu Welt. Schließlich bekam<br />
sie die Gelegenheit, in die Vereinigten<br />
Staaten auszureisen.<br />
Doch NewYorkwar für sie alles andereals<br />
das gelobte Land.„Ich habe lange gebraucht,<br />
um einigermaßen die Sprache zu sprechen.<br />
Unddas Klima ist mir gar nicht bekommen.“<br />
Dieschwülwarmen Sommer in NewYork, die<br />
durch die Brise vom Hudson herauf in Washington<br />
Heights nur ein klein wenig gelindertwurden,<br />
waren gar nichts für sie.<br />
Ebenso wenig kam Mina Stern mit der<br />
kargen Existenz zurecht, die sie und ihr<br />
Mann sich in NewYorkhartverdienen mussten.<br />
Er war Möbelschreiner und konnte die<br />
Familie gerade so ernähren. Als Bauern mit<br />
eigenem Land in Hessen war es Mina Sterns<br />
Familie deutlich besser gegangen.<br />
UND DOCH ARRANGIERTE SIE SICH. Was<br />
sollte sie auch sonst tun? Ihre tief empfundene<br />
Heimatlosigkeit, das Unvermögen, sich<br />
mit den deutschen Anteilen ihrer Identität<br />
wirklich zu versöhnen, ist ein Grundgefühl,<br />
mit dem viele deutsche Juden hier in Washington<br />
Heights zu kämpfen haben. Und<br />
die innereSpaltung ist bis heute spürbar.<br />
Manfred Kirchheimer hat über viele Jahre<br />
diesen Identitätsbruch zum Thema und Inhalt<br />
seines Lebens und Schaffens gemacht.<br />
Sein Dokumentarfilm „Weweresobeloved“,<br />
für den er in den 80er-Jahren Dutzende der<br />
in Deutschland geborenen Juden von Washington<br />
Heights interviewt hat, kreist immer<br />
wieder um die Frage, was es bedeutet,<br />
deutsch zu sein und Jude zu sein.<br />
Für Kirchheimer ist die Frage zutiefst persönlich.<br />
Er wurde 1931 als Sohn einesWerbezeichners<br />
in Saarbrücken geboren. Als sein<br />
Vater 1935 seine Arbeit verlor,packte die Familie<br />
ihreSachen und flüchtete.1936 kamen<br />
die Kirchheimers in Washington Heights an,<br />
wo „Manny“, wie er sich in NewYork nennt,<br />
lebte,bis er zur Kunsthochschule ging.<br />
Heute wohnt der 88-Jährige, der Dutzende<br />
hochgelobte Film-Essays über New<br />
York gedreht hat, an der Upper West Side,<br />
fünf Kilometer südlich von Washington<br />
Heights.Erist ein wenig zittrig geworden im<br />
Alter,doch seine Augen sind nach wie vorso<br />
sanft und wach wie damals in seinem Film.<br />
Seine deutsche, brüterische Nachdenklichkeit<br />
ist ebenfalls unverändert.<br />
„Eigentlich“, sagt er, während er sich in<br />
seinem Stamm-Diner am Broadway zum<br />
Lunch niederlässt, „habe ich das Thema<br />
Deutschland für mich abgeschlossen“. Alles,<br />
was er dazu zu sagen gehabt habe,habe er in<br />
dem Film gesagt.<br />
Am Ende des Films,der die Schicksale der<br />
Holocaust-Überlebenden von Washington<br />
Heights erzählt, kommt Kirchheimer zu einer<br />
eher unversöhnlichen Haltung gegenüber<br />
Deutschland. Er erlangt zwar auch einen<br />
distanzierten, intellektuellen Blick auf<br />
das Dritte Reich, der die Ursachen für das<br />
Geschehene nachvollziehen kann, „Verzeihen“,<br />
sagt er jedoch schließlich, „werde ich<br />
es nie können, was die Deutschen gemacht<br />
haben.“<br />
Dennoch bewegt Manny Kirchheimer<br />
sich heute unbefangen durch Deutschland<br />
und begegnet Deutschen, die nach dem<br />
Krieg geboren wurden, offen. Er hat seine<br />
Filme auf Festivals inSaarbrücken, Mannheim<br />
und Berlin gezeigt und dort Freundschaften<br />
geschlossen, zum Beispiel mit<br />
dem ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten<br />
Oskar Lafontaine. „Alles gute<br />
Linke“, sagt er. „Ich habe keine Probleme<br />
mit denen.“<br />
DerWendepunkt, der ihn gegenüber dem<br />
Nachkriegsdeutschland schließlich doch geöffnet<br />
hat, sagt Manny Kirchheimer, sei für<br />
ihn gekommen, als die USA in den Vietnam-<br />
Krieg verwickelt wurden. Wie viele junge<br />
Amerikaner habe er damals heftig gegen den<br />
Krieg und die Grausamkeiten protestiert,<br />
welche die USA dortbegingen. Dabei habe er<br />
erstmals für die durchschnittlichen Deutschen<br />
Verständnis entwickelt. „Plötzlich gehörte<br />
ich als Amerikaner auch zu denen, die<br />
Schuld auf sich geladen haben.“<br />
Die Besuche in Deutschland haben<br />
Manny Kirchheimer aber auch auf andere<br />
Art mit seinem Deutschsein konfrontiert<br />
und bis zu einem gewissen Grad auch versöhnt.<br />
„Ich habe plötzlich begriffen, wie viel<br />
von unserem täglichen Leben deutsch war.“<br />
Der tägliche Nachmittagskaffee, die Vitrine<br />
mit Porzellan-Nippes, der große Esstisch in<br />
Dr.Ruth Westheimer in ihrer Wohnung direkt unterhalb des Fort<br />
Tryon Parks.<br />
„Wosollten wir auch sonst hin?“ Die aus Hessen stammende<br />
Holocaust-Überlebende Mina Stern.<br />
„Sieh: ich fühle, wie ich mich entferne, wie ich Altes, Blatt um Blatt, verlier“: Gedenken an an die verstorbenen<br />
deutschen Mitglieder der Gemeinde in den Fensternder Holy Tabernacle Synagogue.<br />
Dieletzt<br />
In den 30er-und 40er-Jahren begründeten Shoah-Flüc<br />
Gemeinde außerhalb Deutschlands. Doch allmäh<br />
VonSebastian Moll (T<br />
3km<br />
NEW<br />
JERSEY<br />
Washington<br />
Hudson<br />
River<br />
Cent<br />
Par<br />
MANHATTAN<br />
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Park<br />
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