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Berliner Zeitung 18.05.2019

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10 18./19. MAI 2019<br />

In der<br />

Paket-Fabrik<br />

An liebsten Shampoo und Windeln<br />

Ein gigantisches Warenlager ist die Halle in Brieselang.Zuden Topsellerngehörten<br />

Kaffee und Hygieneartikel wie Shampoo, Duschgel, Toilettenpapier<br />

und Windeln, sagt Ali Türk, der stellvertretende Standortleiter<br />

in Brieselang.„Also all jene Dinge, die jeder braucht, die aber<br />

kein Einkaufserlebnis bieten.“ Am „Inbound Dock“ kommen jeden Tag<br />

Lkws an, die die vonAmazon bestellten Artikel liefern. Jeder einzelne<br />

wird voneinem Mitarbeiter der Abteilung „Receive“ erfasst und erhält<br />

einen Barcode, mit dessen Hilfe er in den langen Regalreihen wiedergefunden<br />

werden kann.<br />

Eine riesige Halle, Millionen Produkte, Tausende<br />

Meter Regalfläche. Werkennt sich da noch aus? Ein<br />

Einblick in die Logistik des Onlinehändlers Amazon<br />

Florian Thalmann (Text) und Sabine Gudath (Fotos)<br />

Zuletzt machte Amazon Schlagzeilen, weil<br />

das Unternehmen nun auch noch Supermärkte<br />

eröffnen, also in jene analoge Welt<br />

des Handels vorstoßen will, die es zunehmend<br />

bedroht. Doch das wichtigste Geschäftsfeld ist<br />

weiterhin der Online-Verkauf, weltweit umgesetzt in<br />

riesigen Logistikzentren, eines davon steht nordwestlich<br />

vonBerlin in Brieselang.<br />

„Eigentlich“, sagt Stephan Eichenseher, Sprecher<br />

der deutschen Niederlassung vonAmazon, „sind wir<br />

kein Versandunternehmen. Wirsind eine Fabrik, die<br />

Pakete herstellt.“ Besser kann man kaum beschreiben,<br />

was in der riesigen Halle in einem Gewerbegebiet<br />

passiert, 24 Stunden am Tag. 700 Menschen<br />

arbeiten hier im Schichtsystem, um die 200 sind<br />

gleichzeitig mit den Arbeitsschritten beschäftigt, die<br />

zwischen der Ankunft und dem Verschicken der Produkte<br />

liegen. VonBrieselang aus deckt der Onlineversandhändler<br />

nicht nur den Großraum Berlin ab,<br />

die Pakete reisen in 150 Länder.Das System, mit dessen<br />

Hilfe die Arbeit in der Halle wie ein Uhrwerk<br />

funktioniert, scheint zuerst undurchschaubar –das<br />

Zauberwort lautet „Chaotische Lagerhaltung“. Es<br />

steht nicht DVD anDVD und Buch an Buch, im Gegenteil:<br />

Jeder neue Artikel landet dort, wo gerade ein<br />

Plätzchen frei ist, wiedergefunden wird erper Scan.<br />

Eine moderne, mächtige Fabrik. Eine von 175 weltweit.<br />

VomBand in die Welt<br />

Zuletzt sind die „Packer“ dran, sie verstaunen die Produkte in Kartons<br />

vonangemessener Größe und legen sie auf das Förderband: fertig zum<br />

Verschicken. Am vergangenen Prime Day, ein TagimJahr,andem Amazon<br />

seinen Kunden besonders hohe Rabatte anbietet, hat eine Rekordzahl<br />

von65000 Paketen das LogistikzentrumBrieselang verlassen.<br />

Die Suche nach der Lücke<br />

Nach den „Receivern“ sind die „Stower“ dran –sowie Kevin Gonsior,<br />

26. Er bringt die neu angekommenen Produkte, hier:Bettlaken, zu den<br />

Regalen und räumt sie dortein, wo gerade Platz ist. Wenn er eine Stelle<br />

gefunden hat, scannt er Produkt- und Regalcode, beides wird im System<br />

hinterlegt. Gonsior verteilt die Bettlaken nach dieser Methode in<br />

der ganzen Halle, so kann das Computersystem beim Erstellen des<br />

„Pick-Weges“ später Stellen suchen, an denen gleichzeitig bestellte<br />

Produkte nah beieinander liegen.<br />

Spielzeug neben Knoblauchpresse<br />

Spielzeug neben Gewürzextrakten, Knoblauchpressen neben Taschen und zwischendrin Kekse: „Chaotische Lagerhaltung“ heißt<br />

das bei Amazon. AufOrdnung kommt es nicht an, sonderndarauf, dass die Produkte gefunden werden können. Beim Einräumen<br />

wird der Barcode des jeweiligen Produkts mit dem Barcode des Regals verknüpft –nicht der Mensch, aber das Computersystem<br />

weiß so, wo was steht.<br />

Chaos mit System<br />

Gibt jemand eine Bestellung ab,kommen „Picker“ zum Einsatz -Mitarbeiter,die<br />

die bestellten Artikel an den entsprechenden Regalen abholen.<br />

Weil das Computersystem weiß, wo jeder Artikel steht, berechnet<br />

es für die Mitarbeiter den kürzesten Wegvon Produkt zu Produkt. Mit<br />

einem Scanner suchen die Picker dann in den riesigen Regalen nach<br />

der bestellten Ware. Langweilig? Gar nicht, sagt ein Mitarbeiter:Essei<br />

interessant, zu sehen, was Kunden alles zusammen bestellen. „Zum<br />

Beispiel DVDs mit Sex- und welche mit Kinderfilmen.“<br />

Leo<br />

Gutsch<br />

Meine Frau Catherine ist seit ein paar<br />

Monaten Mitglied einer europäischen<br />

Bürgerbewegung. Sie sagt, wer sich jetzt<br />

nicht für Europa engagiert, der darf sich<br />

nicht wundern, wenn es irgendwann verschwunden<br />

ist. Grundsätzlich bin ich da natürlich<br />

völlig mit ihr einverstanden. Es ist nur<br />

so, dass sich unser Familienleben stark verändert<br />

hat, seit meine Frau Europa rettet.<br />

DerTag beginnt mit dem gemeinsamen Singen<br />

der Europa-Hymne.Während des Frühstücks<br />

darf nicht gesprochen werden, denn<br />

wir hören im Radio die neuesten Europa-<br />

Nachrichten. Dann hat meine Frau ihre Europa-Telefonkonferenz.<br />

Anschließend erzählt mir meine Frau von<br />

der Europa-Telefonkonferenz. Manchmal<br />

dauert die Erzählung länger als die Konferenz.<br />

Ich kenne mittlerweile ihre engsten<br />

vierhundert bis fünfhundert Mitstreiter<br />

ziemlich genau, obwohl ich diese Leute noch<br />

nie gesehen habe.Ich bin auch über aktuelle<br />

und zukünftige Projekte detailliert unterrichtet.<br />

Falls der Chef der Bürgerbewegung<br />

mal krank wird, könnte ich ihn problemlos<br />

ersetzen, auch Urlaubsvertretungen wären<br />

möglich. Es ist übrigens ein riesiger Vorteil,<br />

dass ich so gut informiert bin. Wie sollte ich<br />

sonst mit meiner Frau ins Gespräch kommen?<br />

Auf banale Dinge des Alltags reagiert<br />

sie schon lange nicht mehr. Sage ich zum<br />

Beispiel:„Schatz, wollen wir heute Abend ins<br />

Kino gehen?“, dann guckt sie mich an wie<br />

Fliegendreck. Sage ich hingegen: „Schatz,<br />

würde die kulturelle Identität Europas nicht<br />

gestärkt, wenn wir uns heute Abend einen<br />

spanischen Film mit griechischen Untertiteln<br />

anschauen?“, dann habe ich ihre ungeteilte<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Meine Frau ist in Luxemburg geboren, in<br />

Brüssel aufgewachsen, hat in Paris studiert<br />

und lebt jetzt in Berlin. Viel europäischer als<br />

sie kann man nicht sein. Ich war in meiner<br />

Jugend in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische<br />

Freundschaft, was allerdings vor<br />

allem damit zu tun hatte, dass Juliane, ein<br />

Lasst uns<br />

Europa retten<br />

VonMaxim Leo<br />

schönes Mädchen aus der Nachbarklasse,<br />

dort auch Mitglied war. Später studierte ich<br />

in Paris, lernte meine Frau kennen und<br />

wurde zu einem überzeugten Verfechter der<br />

Deutsch-Französischen Freundschaft. Man<br />

könnte also sagen, dass mein außenpolitisches<br />

Denken nicht unentscheidend vom<br />

weiblichen Geschlecht geprägt wurde.<br />

Aber auch mein Großvater spielte eine<br />

Rolle. Erwar als Kind mit seinen Eltern vor<br />

den Nazis nach Frankreich geflohen, schloss<br />

sich später den Partisanen an und kam als<br />

Leutnant der französischen Armee ins besiegte<br />

Deutschland zurück. Er war, denke<br />

ich, auf seine ArtEuropäer.<br />

Als ich in Paris studierte, regierten<br />

François Mitterrand und Helmut Kohl, die<br />

sich zehn Jahre zuvor in Verdun die Hände<br />

gereicht hatten. Die Geschichte Europas erschien<br />

mir unumkehrbar zu sein. Es war klar,<br />

dass die europäischen Nationen sich nie<br />

wieder gegeneinander wenden würden. Es<br />

war klar,dass kein europäisches Land alleine<br />

bestehen kann. Dass nur die Union Europa<br />

eine Stimme gibt. Undheute? Da scheint das<br />

alles nicht mehr so klar zu sein. Da gibt es immer<br />

mehr Leute, die ernsthaft denken, man<br />

käme alleine besser zurecht. Da wirddie Geschichte<br />

vergessen. Da wird Hass und Angst<br />

geschürt.<br />

Okay, liebe Leser, estut mir leid, irgendwie<br />

ist diese kleine, heitere Geschichte jetzt<br />

auf einmal ins Große, Ernsthafte gerutscht.<br />

Aber so ist das eben manchmal, vorallem in<br />

so seltsamen Zeiten. Wie Sie wissen, findet<br />

nächste Woche die Europawahl statt. Zum<br />

ersten Malkönnten die rechtspopulistischen<br />

Angstmacher und nationalistischen Hetzer<br />

Europa blockieren. Deshalb, liebe Leser, gehen<br />

Siebitte zu dieser Wahl und stimmen Sie<br />

für Europa! Siewürden damit auch mir ganz<br />

persönlich helfen, denn wenn die Bedrohung<br />

abgewendet wird, muss meine Frau<br />

nicht mehr in der Bürgerbewegung mitmachen.<br />

Und mein Familienleben und diese<br />

Kolumne werden wieder normal.

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