Berliner Zeitung 18.05.2019
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6 18./19. MAI 2019<br />
Den Samen in die Erde gesteckt, und dann heißt es warten. Je nach Pflanze zeigt sich nach einer bis mehreren Wochen das erste Grün.<br />
IMAGO IMAGES/PHILIPP DIMITRI<br />
Am eindrucksvollsten machen es<br />
Bohnen: Zuerst wölbt sich ein draller<br />
Stängel aus der Erde, umkurz<br />
darauf zwei kräftige Keimblätter<br />
hochzustemmen. Möhren starten eleganter:<br />
mit schmalen Blättchen, die an Grashalme<br />
erinnern, dazwischen entfaltet sich fedriges<br />
Grün. Radieschen zeigen zuerst zwei rundliche<br />
Ohren, ihreKeimblätter erscheinen vielleicht<br />
am schnellsten von allen, abgesehen<br />
von Kresse, die es noch eiliger hat. Jede<br />
Pflanze hat am Anfang ihres Lebens einen<br />
speziellen Charme, und es macht Spaß, sie<br />
genau dann zu beobachten.Werdas möchte,<br />
muss zuvor nur ein paar Samenkörner in die<br />
Erde legen.<br />
Gesät wird, sagt eine goldene Gartenregel,<br />
sobald die Erde warmgenug ist, um sich mit<br />
heruntergelassener Hose draufzusetzen. Oft<br />
wäre das schon im April nicht allzu unangenehm,<br />
aber im Mai kann es noch sehr kalt<br />
werden, wie in diesem Jahr. Und das mögen<br />
junge Pflanzen gar nicht. Manches Gemüse<br />
verträgt eisige Temperaturen, aber Überleben<br />
und Gedeihen sind zwei unterschiedliche<br />
Phänomene. Und in kalter, nasser Erde<br />
verfaulen Samen schon mal, anstatt zu keimen.<br />
Sind die Eisheiligen vorbei, also jetzt,<br />
steht der Aussaat im Freien, auch Direktsaat<br />
genannt, aber nichts mehr im Wege. Selbst<br />
wärmeliebende Sensibelchen wie Gurken<br />
oder Zucchini können draußen auf den Weg<br />
gebracht werden.<br />
Es braucht aber ein paar Vorarbeiten. Wer<br />
einfach Samenkörner in den märkischen<br />
Sand wirft, wird sie vermutlich zum Leben<br />
erwecken, aber vom weiteren Wachstum<br />
enttäuscht. Sofern esnicht schon im Herbst<br />
geschah –das wäre ideal –wird das Beet daher<br />
mit organischem Material angereichert,<br />
zum Beispiel mit Kompost und humusreicher<br />
Gartenerde.<br />
Werkeinen eigenen Kompost hat, kauft<br />
ihn, zum Beispiel preiswertbei Recyclinghöfen.<br />
Die Gartenerde kommt im Zweifel auch<br />
aus der Tüte,sollte aber auf jeden Fall torffrei<br />
sein. Denn der Torfabbau zerstört Moore,<br />
und die sind nicht nur wertvolle Biotope,<br />
sondern natürliche CO2-Speicher. Die Erde<br />
wirdbehutsam in den Boden gearbeitet, sehr<br />
gut geht das mit einer Grabegabel oder einem<br />
Sauzahn. Beherztes Umgraben ist nicht<br />
zu empfehlen, da es den Mikroorganismen<br />
im Boden überhaupt nicht gefällt, wenn ihre<br />
Welt via Spatenstich auf dem Kopf gestellt<br />
wird. DasZiel ist jedenfalls ein lockeres,feinkrümeliges<br />
Beet. DerKompost wirddraufgestreut<br />
und eingeharkt.<br />
So entspannt es aussieht, die Saat locker<br />
aus dem Handgelenk zu verstreuen, so hilfreich<br />
sind doch schnöde gerade Reihen, wenn<br />
es später ans Jäten geht. Gartenneulinge können<br />
mit ihrer Hilfe außerdem leichter das Gemüse<br />
vomUnkraut unterscheiden. Also säen<br />
Sie inReihen, zwischen die mindestens eine<br />
Kratzkralle passt. Wie tief die einzelnen Körner<br />
liegen müssen und wie groß der Abstand<br />
zwischen ihnen sein sollte,steht meist auf den<br />
Samentüten. Die Faustregel lautet, dass ein<br />
Korn ungefähr so tief in die Erde kommt, wie<br />
es selbst dick ist. Also reicht oft ein Hauch<br />
Erde. Manche möchten so gut wie gar nichts<br />
über sich, Tagetes und Bohnenkraut etwa,<br />
man nennt sie daher Lichtkeimer.Dasoetwas<br />
nicht immer auf der Packung steht, lohnt sich<br />
ein Blick ins Gartenbuch oder das Internet,<br />
um die Bedürfnisse der neuen Gartenbewohner<br />
zu ergründen.<br />
Keimzeit<br />
Garantiert pestizidfrei, einfach und immer wieder faszinierend:<br />
Es gibt viele Gründe, selbst zu säen. Und zwar jetzt<br />
VonSabine Rohlf<br />
Bei feinen Samen ist es nicht einfach, sie<br />
einzeln und im richtigen Abstand in den Boden<br />
zu befördern, aber die Mühe lohnt sich.<br />
Genug Platz sollte eine Pflanze nämlich auf<br />
jeden Fall haben, sonst bleibt sie ihr Leben<br />
lang mickrig. Zwar kann zu eng Stehendes<br />
ausgezupft werden, aber zum einen blutet<br />
dabei vielen Gärtnern das Herz, zum anderenlockt<br />
der Geruch der verletzten Wurzeln,<br />
Stängel und Blätter zuweilen Schädlinge an.<br />
Natürlich kann man die überzähligen<br />
Pflänzchen auch umpflanzen, aber das bedeutet<br />
Stress für sie, und für den Menschen<br />
ist es auch nicht weniger Gefummel als eine<br />
umsichtige Aussaat. Undesmuss ja nicht viel<br />
auf einmal sein: Anstatt eine ganze Samentüte<br />
im Beet zu verteilen, sollte man ohnehin<br />
lieber alle zwei Wochen nachsäen. Denn wer<br />
will schon drei Dutzend Salatköpfe auf einmal<br />
essen?<br />
Das erste Mal gegossen wird vor dem<br />
Säen, denn direkt danach werden Samen<br />
allzu leicht weggeschwemmt. Ist alles in der<br />
Erde und hat sich gesetzt, wird regelmäßig<br />
gewässert, denn neben Wärme und Licht ist<br />
Feuchtigkeit ein wichtiger Impuls für die Keimung.<br />
Eine Mulchschicht aus Rasenschnitt,<br />
Strohoder kleingezupften Blätternzwischen<br />
dem Gesäten und später den Pflanzen<br />
schützt vor Austrocknung und verbessert in<br />
verrottetem Zustand den Boden.<br />
Je nach Pflanzeund Umweltbedingungen<br />
zeigt sich das erste Grün nach einer bis mehrerenWochen.<br />
Petersilie stellt die Geduld auf<br />
eine besonders harte Probe, sie lässt sich<br />
schon mal vierWochen Zeit. Manchmal auch<br />
länger. Man sollte unbedingt auch Dynamischeres,<br />
etwa Bohnen, Mangold, Salat oder<br />
Radieschen säen, um sich bei Laune zu halten.<br />
Einbisschen schneller geht es,wenn die<br />
Samen über Nacht in Wasser oder Kamillentee<br />
vorquellen dürfen.<br />
Das junge Grün muss vor Schnecken geschützt<br />
werden. Am sichersten ist ein Schneckenzaun<br />
rund ums Beet. Kaffeesatz, zerstoßene<br />
Muschelschalen oder Kupferdrähte dagegen<br />
sind meist kein unüberwindliches<br />
Hindernis. In Hochbeeten bemerken die<br />
Weichtiere das leckere Grün oft nicht. Im<br />
Topf an sicherem Ort vorgezogene Pflanzen<br />
sind manchmal auch eine Lösung. Sie kommen<br />
erst ins Beet, wenn sie nicht mehr ganz<br />
so zart sind. Bei Bohnen, die Schnecken besonders<br />
lieben, kann das sehr sinnvoll sein.<br />
Gärtnereien und Gartenmärkte bieten<br />
Gemüsepflänzchen an, warum sollte man<br />
sich überhaupt die Mühe machen, sie zu<br />
säen? Weil es Spaß macht! Oder um eine<br />
uralte, für unsere Lebensform sehr wichtige<br />
Kulturtechnik zu würdigen. Hätten wir Menschen<br />
nie gelernt, Samenkörner absichtsvoll<br />
in die Erde zu legen, wären wir immer noch<br />
Jäger und Sammler. Aber es gibt auch ganz<br />
praktische Gründe: Zum einen brauchen<br />
auch gekaufte Jungpflanzen einen gut vorbereiteten<br />
Boden, Wasser und Fürsorge, das<br />
heißt, so viel Arbeit ersparen sie gar nicht gegenüber<br />
der Direktsaat. Zum anderen und<br />
vor allem haben wir beim Samenkauf eine<br />
viel größereAuswahl. Alte Sorten und Raritäten<br />
wie Teufelsohren-Salat oder italienischen<br />
Knospenkohl gibt es nicht fertig im<br />
Plastiktopf.<br />
Wernicht nur Gemüse,sondernauch Blütenpracht<br />
aus dem Samenkorn zieht, kann<br />
zudem sicher sein, keine Insekten zu vergiften.<br />
Denn all die Begonien, Löwenmäulchen,<br />
Lavendel, Margeriten, die gerade<br />
massenhaft vor Gartenmärkten und<br />
Discountern stehen, wurden nicht selten<br />
mit Pestiziden behandelt, und das schadet<br />
Bienen und Co. sehr. Der britische<br />
Biologe Dave Goulson, aber auch Greenpeace<br />
belegten das in Studien. ViaSamentüte<br />
kommt man zudem wie beim Gemüse<br />
an besondere Arten und Sorten,<br />
etwa Wildkräuter, viktorianische Wicken,<br />
extravagante Nelkenzüchtungen aus dem<br />
Biedermeier, Studentenblumen, die nicht<br />
streng riechend stramm stehen, sondern<br />
nach Zitrone duften und fröhlich wuchern.<br />
Und dann gibt es noch besonders<br />
hübsche Sommerblumen, die es hassen,<br />
verpflanzt zu werden und daher nicht für<br />
den Handel taugen: Atlas- und Schleifenblume<br />
etwa, Klatsch- und Goldmohn.<br />
Sind die einmal im Garten und fühlen sich<br />
wohl, säen sie sich jedes Jahr ganz allein<br />
wieder aus.Und das macht dann überhaupt<br />
keine Arbeit mehr.<br />
Sabine Rohlf kann jedes Jahr Dutzende<br />
Jungpflanzen verschenken, seitdem<br />
sie im Garten Ringelblumen sät.<br />
MEIN PLATZ<br />
VonJörg Niendorf (Text)<br />
und Benjamin Pritzkuleit (Fotos)<br />
Kerim Kissing sprayt<br />
am Holzmarkt<br />
AmFluss kann ich meine Gedanken am<br />
besten sammeln. Jeden Vormittag<br />
komme ich von Moabit hier herübergefahren,<br />
dann bleibe ich den ganzen Tag am<br />
Holzmarkt.<br />
Im Moment mache ich Graffiti-Kunst, ich<br />
spraye auf Second-Hand-Lederjacken. Ich<br />
brauche nicht viel: vier Dosen Farbe, eine<br />
Holzpalette, dabreite ich die Klamotten vor<br />
mir aus, und einen Stein zum Sitzen. Viele<br />
Holzmarkt-Besucher gucken mir eine Weile<br />
zu bei dem, was ich da mache. Manche fragen<br />
etwas. Bevor Sie jetzt auch fragen: Nein,<br />
verkaufen will ich die Jacken erst mal nicht.<br />
Ichziehe sie selbst an. Bald stelle ich sie aus,<br />
um Leute zusammenzubringen und mit ihnen<br />
über meine Kunst zu reden. Ich wollte<br />
etwas radikal anderes machen als in meinem<br />
vorherigen Leben. Das hat mich dazu gebracht.<br />
Bis vor einiger Zeit hatte ich einen Job in<br />
den Medien: immer im Büro, auf Terminen.<br />
Jetzt bin ich frei. Gelegentlich mache ich Jobs<br />
zum Geldverdienen, renoviere Wohnungen<br />
oder helfe bei Umzügen. Meistens dauerndie<br />
nicht lange, dann bin ich zurück am Holzmarkt.<br />
Die Regel ist, dass jeder am Eingang<br />
nur Bescheid geben muss,wennereineIdee<br />
hat und sie auf dem Gelände verwirklichen<br />
will. Es gibt das Okay,und man macht los.<br />
WiramHolzmarkt machen die Stadt bunter,finde<br />
ich. Manchmal ist es rappelvoll um<br />
mich herum, zu anderen Zeiten eher ruhig.<br />
Egal wann, gute Begegnungen gibt es immer<br />
mit den anderen, die hier arbeiten. Jeder<br />
nimmt sich viel Zeit, wir reden viel, die meisten<br />
wollen keinen Druck, ganz wie ich. Vielleicht<br />
ist es eine Phase, einfach mal nur zu<br />
sein.<br />
Eine sehr wichtige Phase.<br />
Beruf: Street-Art-Künstler;Alter:30; geboren in: FrankfurtamMain; wohnt in: Berlin-Moabit; Zeit am Platz: jeden Tag