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Berliner Zeitung 29.06.2019

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22 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 148 · 2 9./30. Juni 2019<br />

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Sport<br />

Schnürtihre Schuhe, um nun endlich bei der WM einzugreifen: Dzenifer Marozsan<br />

DPA/SEBASTIAN GOLLNOW<br />

Gespenst an der Vilaine<br />

Deutschlands Fußballerinnen erwarten im WM-Viertelfinale gegen Schweden Dzsenifer Marozsan zurück –und damit auch Spielwitz und Kreativität<br />

VonFrank Hellmann, Rennes<br />

Die Zeiten reichen bis ins<br />

Mittelalter zurück, dass<br />

der Fluss Vilaine für die<br />

Bretagne eine wichtige<br />

Rolle spielte,umWaren aus dem Golf<br />

von Biskaya bis hinauf nach Rennes<br />

zu transportieren. Trotzdem ist sein<br />

Wert mit den angrenzenden Gewässern<br />

auch heute für die bretonische<br />

Hauptstadt nicht zu unterschätzen,<br />

denn nur hier findet sich noch ein<br />

wenig Abkühlung von der Sommerhitze,<br />

die mittlerweile auch Frankreichs<br />

Norden in den Klammergriff<br />

genommen hat.<br />

Direkt an diesem Fluss liegt der<br />

Roazhon Park,indem nun der wichtigsteWM-Härtetest<br />

für die deutsche<br />

Frauen-Nationalmannschaft mit<br />

dem Viertelfinale gegen Schweden<br />

(Sonnabend 18.30 Uhr/ ARD) steigt.<br />

Während der einwöchigen Pause<br />

seit dem Achtelfinale –soviel wie bei<br />

keinem anderenTeilnehmer desTurniers<br />

–ist die Anspannung genauso<br />

gestiegen wie die Temperaturanzeige.Trotzdem<br />

will Bundestrainerin<br />

Martina Voss-Tecklenburg den langen<br />

Vorlauf nicht missen: „Weil wir<br />

zu Kräften kommen konnten. Wir<br />

haben einen Schwerpunkt gesetzt<br />

im technisch-taktischen Bereich.“<br />

Die51-Jährige erwartet ein„Spiel auf<br />

Augenhöhe, in dem Kleinigkeiten<br />

entscheiden können.“ Oder einfach<br />

die größereHitzebeständigkeit.<br />

In der Heimstätte des französischen<br />

Pokalsiegers Stade Rennes findet<br />

der ewige Klassiker des Frauenfußballs<br />

statt, die aus deutscher Sicht<br />

fast immer einen guten Ausgang<br />

nahmen: 20 von28Begegnungen hat<br />

die stolze Frauenfußball-Nation aus<br />

Skandinavien verloren. Die letzte<br />

deutsche Turnier-Niederlage reicht<br />

bis zur WM 1995 zurück (2:3). Zur<br />

Vertreibung des Fluchs hat sich der<br />

Ministerpräsident Stefan Löfven eingeschaltet,<br />

die <strong>Zeitung</strong> „Aftonbladet“<br />

den deutschen Werbespot verspottet<br />

und die Anführerin Caroline<br />

Seger angekündigt, „die ewige Geschichte<br />

umzuschreiben“.<br />

Positiver Abnabelungseffekt<br />

Für den zweifachen Weltmeister und<br />

Olympiasieger Deutschland hängt<br />

zu Beginn der Amtszeit von Voss-<br />

Tecklenburg an diesem europäischen<br />

K.-o.-Duell die Qualifikation<br />

für die Olympia 2020. Druckempfindet<br />

die Duisburgerin deshalb nicht:<br />

„Ich vertraue dieser Mannschaft, die<br />

Charakter, Leidenschaft und Wille<br />

kennzeichnet.“ Und weniger Kreativität,<br />

Technik und Spielwitz. Alles<br />

Komponenten, die Dzsenifer Marozsan<br />

verkörpert. Doch alle Planspiele<br />

mit der Titelsammlerin von Olympique<br />

Lyon waren nach ihrem Bruch<br />

der Mittelzehe des linken Fußes im<br />

Auftaktspiel gegen China (1:0)<br />

durchkreuzt, ehe die WM so richtig<br />

begann. Die Rückkehr soll nun am<br />

DEUTSCHLAND Schult<br />

Gwinn Doorsoun Hegering Schweers<br />

Magull<br />

Leupolz<br />

Huth Marozsan Däbritz<br />

Popp<br />

Rolfö<br />

Blackstenius Jakobsson<br />

Seger<br />

Asllani Rubensson<br />

Eriksson Sembrant Fischer<br />

Glas<br />

Lindahl<br />

VoraussichtlicheAufstellung<br />

SCHWEDEN<br />

Schiedsrichterin: Stephanie Frappart(Frankreich)<br />

BLZ/GALANTY; QUELLE: DPA<br />

selben Orterfolgen, wo sich das Malheur<br />

ereignete.AmTag vordem Spiel<br />

sagte Voss-Tecklenburg: „Dzsenifer<br />

wird spielen können. Wir werden<br />

noch entscheiden, ob vonBeginn an<br />

oder im Laufe des Spiels.“<br />

Die deutsche Spielmacherin gilt<br />

als das personifizierte schwedische<br />

Schreckgespenst. Bei der EM 2013<br />

im Halbfinale (0:1) gab sie für den<br />

Gastgeber die Spaßbremse,als sie in<br />

Göteborgden Ball entschlossen über<br />

die Linie grätschte.Dass sie es viel filigraner<br />

kann, zeigte sie danach: Im<br />

WM-Achtelfinale 2015 (1:4) im kanadischen<br />

Ottawa erzielte sie ihr erstes<br />

WM-Tor, und sie war im Finale des<br />

Olympischen Fußballturniers (2:1)<br />

die Matchwinnerin, als sie in Rio de<br />

Janeirobei beiden Treffernihren feinen<br />

FußimSpiel hatte.Allein mit ihrerPräsenz<br />

beschwörtsie beim Gegner<br />

die Geister der Vergangenheit.<br />

Vermutlich ist der Platz auf der<br />

Bank für die 27-Jährige trotzdem zunächst<br />

der bessere. Denn die deutsche<br />

Mannschaft hat ohne die<br />

„Spiel-Figur“ (Kicker) einen Emanzipationsprozess<br />

hinbekommen.<br />

Deutschland gewann zwar keine<br />

Schönheitspreise, aber ohne Gegentor.<br />

Nia Künzer, die im WM-Finale<br />

2003 gegen Schweden das Golden<br />

Goal köpfte und als ARD-Expertin<br />

auch dieses Turnier intensiv verfolgt,<br />

hat einen positiven Abnabelungseffekt<br />

beobachtet. „Vorher hat sich alles<br />

auf Dzsenifer Marozsan konzentriert,<br />

weil sie im Moment auch eine<br />

der besten Spielerinnen der Welt ist,<br />

jetzt schaffen sie es tatsächlich, das<br />

als Team aufzufangen.“<br />

Die Trainerin muss abwägen, ob<br />

sie schon alles wieder auf ihre Edeltechnikerin<br />

ablädt. Nicht das vor jedem<br />

Spiel ausgerufene „Allez maximal“,<br />

sondern „alle Bälle zu Maro“<br />

schien das Motto zu lauten. „Gefühlt<br />

kann man sie in jeder Situation anspielen.<br />

Dass siemit einer Aktion ein<br />

Spiel entscheidet, hat sie schon öfter<br />

gezeigt“, sagt Abwehrchefin Marina<br />

Hegering. Aber Torhüterin Almuth<br />

Schult sieht auch ein Wagnis, wenn<br />

jetzt schon zu viel Druck der Nummer<br />

zehn laste. „Es ist was anderes,<br />

wenn man so lange nicht durchgängig<br />

trainieren kann. Wir freuen uns,<br />

wenn sie auf dem Platz steht. Aber<br />

wir wollen als Mannschaft 90 Minuten<br />

eine tolle Leistung zeigen –ob<br />

mit Dzseni oder ohne.“<br />

Vielleicht reicht es bei Marozsan<br />

sogar, nach 120 strapaziösen Minuten<br />

humpelnd im Elfmeterschießen<br />

zu verwandeln. Damit hat sie vorvier<br />

Jahren gute Erfahrungen im gewonnenen<br />

WM-Viertelfinale gegen<br />

Frankreich gemacht. Viel mehr ließ<br />

ein malader Fußdamals nicht zu.<br />

FrankHellmann<br />

sieht eineTrainerin voreinen<br />

schwierigen Entscheidung.<br />

Die Geschichte einer späten Liebe<br />

Die Italiener entdecken dank der überzeugenden Auftritte des Nationalteams bei der WM in Frankreich den Frauenfußball für sich<br />

VonFrank Hellmann, Valenciennes<br />

Das Bistrot de Charles in Valenciennes<br />

bietet an Spieltagen<br />

dieser Frauen-Weltmeisterschaft<br />

eine beliebte Begegnungsstätte vor<br />

Fußballspielen im Stade du Hainaut:<br />

Den Kreisverkehr passiert jeder, der<br />

in das rote getünchte Heimstadion<br />

des französischen Zweitligisten FC<br />

Valenciennes gelangen will. An der<br />

Backsteinfassade hängen fein säuberlich<br />

die Flaggen jener Nationen,<br />

die in der Vorrunde hier schon gespielt<br />

haben: Italien und Australien,<br />

Spanien und Deutschland, Kamerun,<br />

Niederlande und Brasilien.<br />

Nun kehren zum WM-Viertelfinale<br />

Niederlande gegen Italien<br />

(Sonnabend 15 Uhr/ ARD) zwei jener<br />

Nation zurück, was in einem Fall<br />

doch überrascht: Italien hat 20 Jahre<br />

nicht bei einer Frauen-WM mitgespielt,<br />

jetzt schreiben Le Azzurre auf<br />

einmal die Geschichte einer späten<br />

Liebe: eine seit Ewigkeiten ganz auf<br />

den Männerfußball gepolte Nation<br />

vonihren Vorzüge zu überzeugen.<br />

Als die Italienerinnen bei der<br />

Frauen-EM 2013 ein Viertelfinale gegen<br />

die deutschen Fußballerinnen<br />

bestritten, schickte die La Gazzetta<br />

dello Sport erst nach der Vorrunde<br />

den ersten italienischen Reporter,<br />

der damals schweißgebadet und verspätet<br />

zur Pressekonferenz im südschwedischen<br />

Växjö erschien. Doch<br />

mittlerweile schmelzen die Vorbe-<br />

halte gegen ein Frauenturnier<br />

wie das teure<br />

Speiseeis in den Gassen<br />

einer französischen<br />

Fußgängerzone.<br />

Der Sender RAI Uno<br />

vermeldet Rekordquoten.<br />

Beim Gruppenspiel<br />

gegen Brasilien<br />

(0:1), inklusive Pay-TV,<br />

schauten schon 7,3<br />

Millionen Landsleute<br />

zu, was Stürmerin Cristiana<br />

Girelli gar nicht<br />

fassen konnte. Bereits<br />

nach ihrem Dreierpack gegen Jamaika<br />

(5:0) erschien die 29-Jährige<br />

auf Titelseiten von Tageszeitungen,<br />

die zuvor für sie –wenn überhaupt –<br />

Plötzlich im Mittelpunkt:<br />

Cristiana Girelli<br />

DPA/SECO<br />

nur die letzte Meldung<br />

übrig hatten.<br />

„Die mediale Aufmerksamkeit,<br />

die wir<br />

bekommen, ist vonunschätzbarem<br />

Wert“,<br />

glaubt die Stürmerin<br />

Girelli vonJuventus Turin,<br />

die ja schon im<br />

Liga-Alltag ein Erweckungserlebnis<br />

hatte.<br />

Zum Spitzenspiel gegen<br />

den AC Florenz<br />

strömten auf einmal<br />

39 000 in jenes Stadion,<br />

in dem sonst Cristiano Ronaldo auftritt.<br />

Immer mehr Vereine ziehen<br />

mit. Der ACMailand, die AS Rom.<br />

Spielerberater bekommen Anrufe,<br />

was es denn kostet, eine deutsche<br />

Nationalspielerin zu verpflichten.<br />

Nun wird esnoch dauern, bis diese<br />

wirklich über die Alpen ziehen, wie<br />

einst in den Neunzigerjahren deutsche<br />

Männer,aber die Signalwirkung<br />

ist nicht zu unterschätzen.<br />

Trainerin Milena Bertolini spürt,<br />

dass sich nach dem souverän verwalteten<br />

2:0 im Achtelfinale gegen<br />

China –ein Tagnach ihrem 53. Geburtstag<br />

–eine ganz große Tür aufgehen<br />

würde, sollte es bis ins Halbfinale,<br />

und dann vielleicht wieder gegen<br />

Deutschland gehen. Europameister<br />

Niederlande ist individuell<br />

sicher besser besetzt, aber das taktische<br />

Geschick ihrer Spielerinnen<br />

nicht zu unterschätzen „Eine solide,<br />

sichere Defensive ist ein wichtiger<br />

Aspekt im Fußball“, sagt die Trainerin.<br />

Sollte heißen: Lieke Martens<br />

oder Vivianne Miedema, ihr müsst<br />

euch was einfallen lassen.<br />

Damit spannt sich die Verbindung<br />

zu jenem Fußballlehrer,der bei<br />

der EM 2013 noch auf der Trainerbank<br />

saß: Antonio Cabrini, ein Weltmeister<br />

aus der Verteidigung von<br />

1982. Cabrini schien das Amt auch<br />

deshalb ganz gerne zu bekleiden,<br />

weil er seinen Job recht ungestört<br />

ausüben konnte.Vor allem ohne jeglichen<br />

Medienrummel. Nach einer<br />

0:1-Niederlage gegen Deutschland<br />

zog übrigens auch die bekannteste<br />

italienische Sportgazette ihreneinzigen<br />

Mann schnell wieder ab.

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