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10 29./30. JUNI 2019<br />
Die Rückkehr des Wimmerls<br />
Siegeszug der Glamourprothese<br />
Jüngst drängelten sich mal wieder die Massen in der U-Bahn, und<br />
immer wieder pikste oder drückte es in Hüfthöhe. Bei näherem Hinsehen<br />
war der Übeltäter enttarnt, es war eine Bauchtasche! Oh, nein,<br />
da war es wieder, dieses furchtbare Relikt aus den 80er-Jahren. Es<br />
war doch längst im hintersten Teil des Schranks vergraben,<br />
dieses neonfarbene oder wild gemusterte<br />
Ding aus Segelstoff oder sonst was, das einst<br />
ähnlich wie Schulterpolster eine Generation<br />
außer Rand und Band brachte.<br />
Danach waren Gürteltaschen, die<br />
manche auch liebevoll Banane oder Wimmerl nannten,<br />
eigentlich nur noch unbeliebte Accessoires für<br />
Touristen mit Trekkingsandalen. Aber nein, seit<br />
neuestem heißen sie „Hip Bags“ oder „Fanny<br />
Packs“. Es gibt sie mit Fransen, Pailletten oder<br />
in weichem Leder. Schön aufgehübscht –aber<br />
eben weiterhin Bauchtaschen. Siesitzen wieder<br />
dort, wo man wenn überhaupt nur Gürtel<br />
sehen möchte. Anne-Kattrin Palmer<br />
TatortTanga<br />
Keine Frage: Die Lingerieindustrie<br />
bietet reizvolle Stücke und interessante<br />
Details. Tangas mit Strassapplikationen<br />
zum Beispiel oder<br />
Strings mit edlen Rüschen und<br />
Spitze. Greifen Sie zu, bis die Kreditkarte<br />
glüht, verzaubern Sie damit Ihren<br />
Liebsten daheim, nur, umGottes<br />
Willen, lassen Sie die Unterwäsche<br />
dort, wo sie schon dem Namen nach<br />
hingehört: unter der Kleidung. Leider<br />
grassiert gerade an heißen Sommertagen<br />
die schon in den 90ern weit verbreitete<br />
und zum Trend hochstilisierte Unsitte,<br />
den String-Tanga über dem Bund der Jeans<br />
oder des Rockes hervorblitzen zu lassen. Eine<br />
an Liederlichkeit und falsch verstandener Erotik<br />
kaum zu unterbietende<br />
Modesünde, die<br />
in ihrer Prolligkeit nur<br />
knapp über dem Arschgeweih<br />
angesiedelt ist. Niemand<br />
will einen von manchen Trägerinnen<br />
bis zum Rippenbogen hochgezogenen<br />
Schlüpper sehen –essei denn, es<br />
handelt sich um hochwertige Feinripp-Ware.<br />
Dann wollen wir mal nicht so sein. Anne Vorbringer<br />
6<br />
Sommersünden<br />
Am Montag beginnt die <strong>Berliner</strong> Fashion Week.<br />
Wieist es eigentlich um den Stil der Stadt bestellt?<br />
Ganz gut, finden wir,wenn da nicht ein<br />
paar Fauxpas wären …<br />
Die Zeiten, in denen Understatement die Maxime der Modewelt<br />
war,sind längst vorbei. DieLage ist kritisch, das Klima-Armageddon<br />
zieht mit Rekordhitzeund Waldbränden heran. Höchste Zeit<br />
also aufzurüsten, etwa mit übergroßen Sonnenbrillen, die bewehrtsind<br />
mit goldenen Designerlogos.InZeiten existenzieller<br />
Bedrohung reagiert der Mensch mit Verweisen auf<br />
seinen materiellen Status. Deswegen prangen<br />
die Designerlogos jetzt nicht nur auf Sonnenbrillen,<br />
sondern auch auf T-Shirts,<br />
Taschen und sogar Unterwäsche.Bei<br />
den nicht modeaffinen Massen war die Riesen-Sonnenbrille<br />
als Glamourprothese ohnehin nie weg: Ein Griff zum<br />
Jackie-O-Gestell, und die Sachbearbeiterin fühlt sich<br />
wie eine Modeikone. Anders gesagt: Liebe Freunde<br />
der Schönheit im aufstrebenden Mittelstand, vermeintlich<br />
glamouröse Sonnenbrillen mit dickem<br />
Logo sind ein Milieumerkmal, das ebenso eindeutig<br />
funktioniert wie französisch manikürte<br />
Acrylfingernägel. Es drückt aus: Grundsätzlich<br />
an Luxus interessiert, Klasse aber leider<br />
nicht vorhanden. Gabriela Keller<br />
malignen Melanomen.<br />
Heute trägt jedes Kind Lichtschutzfaktor<br />
50 (hoffentlich).<br />
Bei aller Liebe zu meiner Großmutter<br />
und den 80ern: Sonnenbrand<br />
darf heute höchstens noch Männern<br />
vom Bau passieren oder Open-Air-Fans<br />
nach drei Tagen Festival. Und Nussöl gehört in<br />
den Salat –nicht auf die Haut. Anne Lena Mösken<br />
Tiefbraun, fast schwarz<br />
Denke ich an meine Großmutter, sehe<br />
ich sie vor mir, wie sie auf einem Badetuch<br />
am Ostseestrand liegt, den ganzen<br />
Tag in der Sonne, der Sonnenschirm<br />
war dafür da, der Kühlbox Schatten zu<br />
spenden, nicht ihr. Sie schmierte sich<br />
mit Tiroler Nussöl ein. Sonnenschutzfaktor<br />
null. Es waren die 80er-Jahre, wer<br />
braun war, zeigte, dass er es sich leisten<br />
konnte, Urlaub zu machen. Am Ende eines<br />
Strandtages war die Haut meiner Großmutter<br />
knallrot und pellte sich, am Ende des Sommers<br />
wurde daraus ein Tiefbraun, zwischen<br />
den Schulterblättern war sie fast schwarz. Niemand<br />
sprach damals vomOzonloch, vonirreparablen<br />
Hautschäden und<br />
Fort mit Füßlingen!<br />
So sommertauglich wie ein Schweinebraten<br />
Wenn Modetrends dem Sanitätshaus entspringen, ist<br />
Vorsicht geboten. Denn Ästhetik spielt dort gemeinhin<br />
keine Rolle, und das modische Statement etwa der vor<br />
zehn Jahren mal kurz hippen MBT-Funktionssneaker<br />
lautete: Ich will meinen Po und meine Waden straffen.<br />
Dasist nicht gerade Werbung in eigener Sache.Ähnlich<br />
verhält es sich mit Füßlingen – als Einlagen für<br />
Schweißfußgeplagte erfunden, inzwischen als „Footies“<br />
oder „No Show Socks“ zur Landplage geworden.<br />
Fans schwärmen vomWohlfühleffekt, nehmen aber in<br />
Kauf, dass ihre Füße von den Gesundstrumpfstumpen<br />
zu Würsten degradiert werden. Wasumso absurder erscheint,<br />
da ja die Information „Ich habe Käsfüße“ mitgeliefertwird.<br />
Schluss also mit dem Unsinn. Wersich in<br />
seinen Schuhen nicht wohlfühlt, hat im Zweifelsfall nur<br />
ein Problem: die falschen Schuhe. Christian Seidl<br />
Der Moment ist nicht leicht, in dem Kinder von einer<br />
niedlichen Abspielfläche des elterlichen Geschmacks<br />
endgültig zu Filtern des modischen Zeitgeistes<br />
werden, der sie so zuverlässig findet wie ein<br />
Hund Grillreste im Park. Bei uns war es in diesem<br />
Jahr so weit, als der Versuch, Sommerschuhe zu kaufen,<br />
mit dem wortkargen Verweis auf Internetseiten<br />
endete. Dagab es die Schuhe, die es sein mussten,<br />
die Schuhe, die jetzt alle hatten: weiß, klobig, Sneakers.<br />
So sommertauglich wie ein Schweinebraten<br />
mit Knödeln. Wenn ich nach Hause komme, bahne<br />
ich mir jetzt den Weg durch einen –jenach Anzahl<br />
der Teenager-Freunde, die gerade da sind – Berg<br />
gräulich-schmuddeliger Turnschuhe. Das Weiß hat<br />
bei keinem lange gehalten. Und dieser Trend wird es<br />
auch nicht. PetraAhne<br />
IMAGO IMAGES (4), PA, DPA<br />
Leo<br />
Gutsch<br />
Mein Ruf ist gerade nicht der beste. In<br />
den <strong>Zeitung</strong>en steht, ich sei ein gewissenloser<br />
Ausbeuter, im Internet kursieren<br />
Hassbriefe gegen mich. Vermutlich ist es<br />
nicht besonders schlau, mich gerade jetzt zu<br />
outen. Ich tue es trotzdem, weil es das eine<br />
oder anderezuklären gibt. Denn: Ichbin ein<br />
Vermieter.<br />
Vorzwanzig Jahren wurden meine Frau<br />
und ich von einer befreundeten Familie<br />
gefragt, ob wir zusammen mit anderen Familien<br />
ein total runtergekommenes<br />
Mietshaus kaufen wollen. Ich war dagegen.<br />
Denn, ganz ehrlich, ich hatte einen<br />
Riesenschiss davor, einen hohen Kredit<br />
aufzunehmen, sämtliche Ersparnisse einzusetzen<br />
und für jegliches Risiko lebenslänglich<br />
haftbar zu sein. Meine Frau Catherine<br />
dagegen, im Kapitalismus großgeworden,<br />
kraulte mir beruhigend das Köpfchen<br />
und sagte: „Sei stark, mein kleiner,<br />
furchtsamer Ostler.Wir schaffendas!“<br />
So wurde ich Vermieter.<br />
Das heißt, zunächst einmal wurde ich<br />
Bauherr. Zwei Jahre dauerte die Sanierung.<br />
Ich lernte viel über Verträge, aufsteigende<br />
Nässe in Kellerräumen, Fassadendämmung<br />
und Kommunikation mit <strong>Berliner</strong> Behörden.<br />
Zwischendurch wären wir zweimal fast pleitegegangen,<br />
gab es eine Überschwemmung,<br />
einen Rattenbefall und eine Kreditkündigung.<br />
Und trotzdem ging es immer weiter,<br />
haben wir es wirklich geschafft.<br />
Später wurde es ruhiger,aber nicht unbedingt<br />
leichter, weil immer Geld fehlte. Das<br />
Wort„Gewinn“ kenne ich leider nur vomHörensagen,<br />
bis heute geht es vorallem darum,<br />
die Verluste klein zu halten. Warum ich das<br />
erzähle? Weil ich das Gefühl habe, dass in<br />
Berlin gerade ein Monster erschaffen wird,<br />
das es so gar nicht gibt. Dieses Monster ist<br />
derVermieter,ein abgefeimter Geselle,der in<br />
Saus und Braus lebt, weil er seine Mieter ausquetscht<br />
wie kubanische Zitronen. Ichdenke<br />
aber, der typische deutsche Kleinvermieter<br />
ist eher so ein Typwie ich, er kommt ganz gut<br />
Wie ich<br />
Vermieter wurde<br />
VonMaxim Leo<br />
klar, aber wenn mal gleichzeitig der Fahrstuhl<br />
kaputtgeht und der Heizungskessel<br />
platzt, dann wird esfinanziell eng. Sechzig<br />
Prozent der Wohnungen in Deutschland gehören<br />
Kleinvermietern. Klar werden da auch<br />
ein paar Fieslinge dabei sein, aber ich würde<br />
behaupten, die große Mehrheit besteht aus<br />
ganz ordentlichen Menschen.<br />
Als ich Vermieter wurde, war die Lage in<br />
Berlin eine komplett andere als heute: Viele<br />
Wohnungen standen leer,die Mietpreise warenimKeller,kaum<br />
einer hatte Lust, die maroden<br />
Häuser zu sanieren. Ich sollte erwähnen,<br />
dass es der <strong>Berliner</strong> Senat war, der uns<br />
damals das Haus verkaufte. Tausende landeseigene<br />
Wohnungen wurden zu der Zeit<br />
verramscht. „Wir brauchen die Bruchbuden<br />
nicht mehr,sollen sich doch private Vermieter<br />
darum kümmern!“, rief der von der SPD<br />
geführte Senat. Heute ruft ein anderer von<br />
der SPD geführte Senat: „Wir brauchen mehr<br />
preiswerten Wohnraum! Und schuld an allem<br />
sind die privaten Vermieter!“<br />
Weil die Politik so kläglich versagt hat, ließ<br />
sie sich einen schönen Begriff einfallen. Mietendeckel.<br />
Klingt toll, oder? Dabei ist es der<br />
reinste Populismus, sagt sogar der Chef des<br />
<strong>Berliner</strong> Mietervereins. Gemacht wird es<br />
trotzdem, weil man ja irgendetwas machen<br />
muss. Esnervt mich, wenn komplexe Probleme<br />
so manipulativ vereinfacht werden.<br />
Das ist ja nicht nur beim Wohnen so, auch<br />
beim Klimawandel, beim Verkehr, der Ernährung,<br />
den Geschlechterverhältnissen.<br />
DerPopulismus vonlinks und rechts interessiertsich<br />
nicht für die Wahrheit, er sucht nur<br />
Sündenböcke.Weiße Männer,Moslems,Autofahrer,<br />
Juden, Langstreckenflieger, Flüchtlinge,<br />
Fleischesser, Ostdeutsche – sie alle<br />
sind an irgendetwas schuld.<br />
Leider bin ich in vielfacher Hinsicht betroffen.<br />
Als weißer, ostdeutscher, autofahrender,<br />
fliegender, fleischessender, vermietender<br />
Mann bin ich so eine Art Teufelsgestalt<br />
des 21. Jahrhunderts geworden. Und<br />
werweiß, was noch alles dazukommt.