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4 29./30. JUNI 2019<br />
Noch heute kann man die Bahn der riesigen Flut sehen, die vor<br />
425 000 Jahren die Straße von Dover schuf. NASA/GSFC/MITI/ERSDAC/JAROS<br />
Unzählige winzige Lebewesen bildeten vor 50 Millionen Jahren im Ur-<br />
Ozean den Kalk, aus dem die Pyramiden gebaut sind.<br />
DPA<br />
Die Plattentektonik schuf einst auch das Mittelmeer,das zur Wiege<br />
der europäischen Zivilisation wurde. Hier die Insel Kos.<br />
DPA<br />
Der Ursprung der Menschheit. Der Ostafrikanische Grabenbruch erstreckt<br />
sich vom Roten Meer bis Mosambik. S. BRUNE/GFZ/NASA-WORLD-WIND<br />
Es ist<br />
kein Zufall,<br />
dass 1863 in<br />
London die erste<br />
U-Bahn der Welt gebaut<br />
wurde.Denn dafür<br />
herrschten besonders<br />
günstige Bedingungen. Diese<br />
waren durch ein seichtes Urmeer<br />
geschaffen worden, das vor<br />
55 Millionen Jahren in eine muldenartige<br />
Senke –das heutige Londoner<br />
Becken –strömte. Esließ eine Schicht<br />
weichen, kittartigen Tons zurück, ideal für<br />
den Bau von Tunneln. Im Süden Londons<br />
dagegen, wo diese Tonschicht in der Tiefe verschwindet,<br />
hat die insgesamt 400 Kilometer<br />
lange „Tube“ nur wenige Linien. Allerdings bringt<br />
die Tonschicht aus dem einstigen Urmeer auch<br />
Nachteile mit sich. Denn die Wärme, die der unermüdliche<br />
Bahnverkehr und die vielen Menschen über<br />
mehr als ein Jahrhundertentwickelten, kann durch den<br />
wärmedämmenden Tonkaum entweichen. Eine Ursache<br />
für die Klagen vieler Londoner und Touristen.<br />
Vonsolchen Geschichten lebt das fesselnde Buch „Ursprünge“<br />
des britischen Astrobiologen Lewis Dartnell, Professor<br />
für Wissenschaftskommunikationander University of<br />
Westminster in London. Der Autor nimmt einen mit auf eine<br />
Reise durch Millionen Jahre.„Ich will der Frage nachgehen, wie<br />
die Erde uns erschaffen hat“, erklärt der 38-Jährige zu Beginn<br />
seines Buches,das jüngst beim Verlag Hanser Berlin erschienen<br />
ist. Wie„durch Zwiebelschalen“ wolle er sich immer tiefer zu den<br />
Ursachen vorarbeiten. Dartnell, dessen Vater als Ingenieur bei<br />
British Airways tätig war,studierte Biologie,machte seinen Doktor<br />
der Philosophie in Astrobiologie,war Forschungsstipendiat bei der<br />
britischen Weltraumbehörde. Erbefasste sich mit außerirdischem<br />
Leben in Form von möglichen Mikroorganismen, die extremer<br />
Strahlung ausgesetzt sind. Schon einmal hat er sich in einem Projekt<br />
mit der Darstellung eines sehr umfassenden Komplexes befasst, und<br />
zwar in seinem 2014 bei Hanser erschienenen „Handbuch für den<br />
Neustart der Welt“. „Dort beschreibe ich die wichtigsten wissenschaftlichen<br />
Entdeckungen und technologischen Innovationen, die<br />
uns dazu befähigt haben, die moderne Welt aufzubauen“, schreibt<br />
Dartnell. Und er macht ein Gedankenexperiment: Was passiert,<br />
wenn die uns bekannte Zivilisation plötzlich endet –durch einen<br />
Atomkrieg oder einen Asteroideneinschlag? Wiekönnten wir überleben?<br />
Wasmüssten wir für einen „Neustart“ wissen, was erlernen?<br />
In seinem Buch „Ursprünge“ denkt der Autor nun jene Ansätze<br />
konsequent zu Ende, die seit einigen Jahren unter Historikern immer<br />
mehr Verbreitung finden. Dabei werden die Menschen und ihre<br />
Geschichte nicht mehr isoliertbetrachtet, sonderninAbhängigkeit<br />
von Umweltbedingungen. „Bisher haben wir als Historiker mit<br />
Quellen gearbeitet, bei denen es sich vornehmlich um schriftliche<br />
Dokumente handelt oder um archäologisches Material“, sagte bereits<br />
2014 der amerikanische Geschichtswissenschaftler Nicola Di<br />
Cosmo auf Zeit online. „Nun ist aber in jüngster Zeit eine ganz<br />
neue Art von Quellen aufgetaucht: naturwissenschaftliches Datenmaterial.“<br />
Dieses habe sich in den vergangenen 20 bis 25 Jahren<br />
bei der Erforschung der globalen Erwärmung angehäuft,<br />
etwa als Ergebnis von Eisbohrkern- und Isotopenuntersuchungen.<br />
Auch genetische Daten würden erforscht. Als Historiker<br />
könne man jetzt viele Probleme neu betrachten, sagte<br />
Di Cosmo. Auf diese Weise entstanden Theorien, die den<br />
Blick der Menschen auf ihre eigene Geschichte veränderten.<br />
2011 hatten Forscher erstmals eine lückenlose Klimarekonstruktion<br />
der letzten 2500 Jahre vorgelegt. Sie<br />
erkannten auffällige Parallelen zwischen starken Klimaschwankungen<br />
und gesellschaftlichen Veränderungen,<br />
etwa der Völkerwanderung und der Transformation<br />
Roms, dem Aufstieg des Mittelalters,<br />
dem Aufkommen vonPest und Krieg. So bereiteten<br />
sich ihrer Meinung nach etwa der Dreißigjährige<br />
Krieg und die Französische Revolution<br />
auf dem Boden von Agrarkrisen, Hungersnöten,<br />
Epidemien und Unruhen vor–<br />
verursacht durch die sogenannte Kleine<br />
Eiszeit, die Anfang des 15. Jahrhunderts<br />
begann und bis ins 19. Jahrhunderthinein<br />
anhielt.<br />
DasBuch „Ursprünge“ geht<br />
aber noch viel weiter. Während<br />
der Blick in den Klimadebatten<br />
meist<br />
nicht über einige<br />
Tausend Jahre<br />
hinausreicht,<br />
widmet<br />
sich<br />
Dartnell<br />
gleich der gesamten<br />
Biografie der Erde.„Denn alles,was<br />
unsere moderne Welt ausmacht –seien es<br />
Metropolen, technische Errungenschaften oder<br />
globale Handelswege –, hat seinen Ursprung in der natürlichen<br />
Beschaffenheit der Erde: ihrem Klima, ihrer Landschaft,<br />
ihren geologischenVeränderungen“, heißt es in derVerlagsankündigung<br />
zu Dartnells Buch. „In,Ursprünge‘ deckt er das Zusammenspiel aus<br />
Kräften auf, das die Umwelt geformt, die Evolution gesteuert und letztendlich<br />
unsere Gesellschaft gebildet hat.“ Dartnell dankt am Ende des<br />
Buchs mehr als dreißig Naturwissenschaftlern und Historikern, die ihm<br />
„ihreZeit großzügig zurVerfügung gestellt“ hätten. Er gibt weiterführende<br />
Literatur- und Quellenangaben für fast jede Seite. Die Bibliografie verweist<br />
auf etwa 320 Bücher, Fachartikel und wissenschaftliche Arbeiten,<br />
aus denen Dartnell den aktuellen Stand des Wissens zusammengetragen<br />
hat. Dennoch merkt man dem Buch diese hochkonzentrierte Fleißarbeit<br />
nicht an. Es wirkt wie aus einem Guss.Dem Autor gelingt es,Zusammenhänge<br />
anschaulich und für Laien verständlich darzustellen.<br />
Diegroße Stärke des Buches besteht darin, dass es die Perspektiveradikal<br />
verändert. Dies ist auch für aktuelle Debatten über die Gegenwartund<br />
Zukunft der Menschheit höchst wichtig –und heilsam. Denn es führtden<br />
Menschen auf seine eigentlichen Ursprünge zurück, zeigt, wovon seine<br />
Existenz wirklich abhängt. Undesordnet die Geschichte der Menschheit<br />
ein –als winzige Episode in der etwa 4,6 Milliarden Jahrealten Geschichte<br />
der Erde, die immer wieder ihr Antlitz grundlegend verändert hat, und<br />
weiter verändern wird. Wie lange die Episode des Homo sapiens noch<br />
dauernwird, liegt nicht am Menschen allein. Aber eben auch an ihm.<br />
„Wir sind Kinder der Plattentektonik“, lautet die Kernthese Lewis Dartnells.Weil<br />
die Erde ständig aktiv ist, sich Kontinente ständig verschieben,<br />
sich Ozeane,Vulkanketten und Gebirge bilden und wieder verschwinden,<br />
Wiedie E<br />
erschaf<br />
Wirsind Kinder der Plattentektonik, beh<br />
in seinem Buch „Ursprünge“. Die Menschh<br />
sich verschieben, Vulkane, Ge<br />
entstanden nicht nur ideale Untergründe für riesige Bauten und ganze<br />
Metropolen, sondernauch deren Baumeister,der Mensch selbst. DiePlattentektonik<br />
und ein dadurch ausgelöster Klimawandel schufen die Voraussetzungen<br />
für die Geburt des Homo sapiens. Sowie ein Klimawandel<br />
auch das Ende der Menschheit bedeuten könnte.<br />
Faszinierend sind die vielen detailreichen Belege, die der Autor für<br />
seine These liefert. Bis dahin, dass die Plattentektonik sogar beeinflusst<br />
hat, an welchen Stellen heute in New York die Wolkenkratzer stehen.<br />
Diese konzentrieren sich, wie Dartnell schreibt, weitgehend auf zwei Gebiete<br />
Manhattans: auf die Südspitze mit dem Finanzdistrikt und auf<br />
Midtown mit dem EmpireState Building und anderen Hochhäusern. Die<br />
typische Skyline New Yorks spiegelt die „unsichtbaren Gesteinsschichten“<br />
unter der Stadt wider.Denn unter den beiden Wolkenkratzer-Häufungen<br />
liegen die „abgewetzten Stümpfe eines alten Gebirgszugs“,<br />
schreibt Dartnell. Forscher nennen den Gebirgszug Grenville-Orogen.<br />
Er soll sich voretwa einer Milliarde Jahren quer durch einen Superkontinent<br />
gezogen haben, der Rodinia genannt wird. Dasharte Gestein eines<br />
nicht mehr existenten Kontinents liefertalso heute das perfekte Fundament<br />
für die Wolkenkratzer.<br />
Die Menschheit selbst entstand laut Dartnell aus einem Zusammenspiel<br />
geologischer und klimatischer Prozesse. AmAnfang stand ein Vorgang,<br />
den wohl kaum jemand in diesem Zusammenhang für besonders<br />
wichtig halten würde: die Auffaltung des Himalaja, angetrieben von der<br />
Kollision Indiens mit Eurasia voretwa 50 Millionen Jahren. Durchdie Erosionsprozesse<br />
in dem gigantischen Gebirgssystem wurde der Atmosphäre<br />
massenhaft Kohlendioxid entzogen, wie Dartnell beschreibt. Der bis dahin<br />
herrschende Treibhauseffekt mit heißem und feuchtem Klima<br />
schwächte sich innerhalb von 20Millionen Jahren ab. Die Temperaturen<br />
sanken. Es kam zur sogenannten känozoischen Abkühlung, die vor etwa<br />
2,6 Millionen Jahren in die Periode „pulsierender Kaltzeiten“ mündete.<br />
Feuchtigkeit wurde von Ostafrika abgezogen, der Niederschlag verringerte<br />
sich. Besonders wichtig für die Entstehung des Menschen war laut<br />
Dartnell außerdem, dass tektonische Prozesse den Ostafrikanischen Grabenbruch<br />
schufen –ein breites,tiefes Talmit hohen Gebirgskämmen, die<br />
feuchte Luftmassen umlenkten. Es bildete sich ein „Lebensraummosaik“,<br />
eine sehr komplexe Umwelt mit vielfältigen Nahrungsquellen, Ressourcen<br />
und Chancen. Wie Dartnell zusammenfasst, entstanden so ideale<br />
Entwicklungsbedingungen für Frühmenschen. Schnelle Veränderungen<br />
in der Region –„tektonische und klimatische Ereignisse“ –führten dazu,<br />
dass jene überlebten, die sich gut an sich verändernde Situationen anpassen<br />
konnten. Dazu trugen bei: die Herausbildung des „opponierbaren“<br />
Daumens, wichtig für den sogenannten Pinzettengriff, die<br />
schnelle Beweglichkeit durch den aufrechten Gang, die Herstellung<br />
vonWerkzeugen und Jagdwaffen, die Entwicklung<br />
erfolgreicher Jagdmethoden, die Zunahme<br />
des Hirnvolumens durch fleischreiche<br />
Ernährung, die Fähigkeit, sich<br />
Kleidung herzu-<br />
VonTorsten