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Berliner Zeitung 29.06.2019

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29./30. JUNI 2019 9<br />

Giorgio Agamben lehrt unter anderem an der Universität Venedig<br />

und am Collège international de philosophie in Paris. Agamben<br />

ist einer der bekanntesten und meistdiskutierten Philosophen<br />

der Gegenwart. Das italienische Kulturinstitut Berlin widmete<br />

dem Gelehrten eine einwöchige Reihe von Veranstaltungen in der ganzen<br />

Stadt. Sein monumentaler Versuch eines radikalen Verständnisses unserer<br />

Gegenwart–„Homo Sacer“ –umfasst vier Bände und mehr als 1300 Seiten.<br />

Agamben schreibt darin über die souveräne Macht und das nackte Leben,<br />

über Armut und Auschwitz, über Ausnahmezustand und Bürgerkrieg. Zu<br />

mächtig schien mir das für die eine Stunde in einem Hotelzimmer. Also befragte<br />

ich ihn zum Weltende.<br />

Herr Agamben, was bedeutet Ihr Name?<br />

Philologen erklärten mir,erstamme aus dem Armenischen: Agambenian,<br />

Kind des Agamben. Ichweiß aber nicht, was Agamben bedeutet. Als ich das<br />

meiner Familie erzählte, erklärte meine Mutter mich für verrückt. Aber: Armenier<br />

gibt es in Italien seit dem 18. Jahrhundert. In der Nähe des Lido von<br />

Venedig liegt die Insel „San Lazzarodegli Armeni“. Dorterbauten damals vor<br />

den Türken geflohene armenische Mönche ein Kloster. Eswurde zu einem<br />

der Zentren armenischer Kultur.<br />

Leben wir in apokalyptischen Zeiten?<br />

DieVorstellung voneinem Ende der Geschichte gehörtzuden Grundlagen<br />

der christlichen Tradition. Die Theologen allerdings haben schon lange den<br />

Schalter„jüngstes Gericht“ geschlossen. DieWissenschaftler haben ihn wieder<br />

geöffnet. Heute sind sie es,die uns mit Endzeiterwartungen versorgen.<br />

Ausgerechnet mit diesen.<br />

Christliche Vorstellungen vonErlösung, vomParadies spielen heute kaum<br />

eine Rolle.Stattdessen wirdüberall vonder Krise gesprochen. In der Medizin<br />

wurde Krise der Moment genannt, da der Arzt nicht mehr helfen konnte.Wir<br />

scheinen heute aus diesem Zustand nicht mehr herauszukommen. Wirleben<br />

in einem permanenten, vomStaat ausgerufenen Ausnahmezustand. Er befördertdie<br />

Gesetzlosigkeit der Einzelnen und des Staates.Andie Stelle der klassischen<br />

Figur des Antichrist sind Millionen kleiner Antichristusse getreten. Auch<br />

darin zeigt sich die Richtigkeit der Beobachtung vonder„Banalität des Bösen“.<br />

Undesist nirgends ein Messias zu sehen. Eine radikal säkularisierte apokalyptische<br />

Situation.<br />

Diechristliche Idee vomJüngsten Gericht bestand darin, die einen in den Himmel<br />

und die anderen in die Hölle zu schicken.<br />

Eine monströse Idee. Besonders schlimm ist die Auffassung des Heiligen<br />

Thomas.Für ihn besteht eine der großen Freuden des Paradieses darin, dass<br />

man bei der Bestrafung der Sünder zuschauen kann. Der Splatterfilm als<br />

Hauptbestandteil des himmlischen Unterhaltungsprogramms.<br />

Dasist keine aus dem Heidentum übernommene Vorstellung?<br />

Nein, nein. Das ist eine durch und durch christliche Innovation. Man<br />

muss sich vorstellen: Ist das Paradies einmal erreicht, gibt es für die Seligen<br />

nichts mehr zu tun. DasParadies ist eine ArtNichts,ein Nirwana. In der Hölle<br />

dagegen arbeiten die Strafbehörden weiter.<br />

DieBeamten des Himmels, die Engel, singen.<br />

Ja,aber das ist ja keine Beschäftigung.<br />

Singen Sie?<br />

Nein.<br />

Haben SieAngst davor?<br />

Ichglaube,ich kann es nicht. Es gab auch große Lehrer des Christentums,<br />

die nicht viel hielten von der Hölle und ihren Strafen. Origenes, einer der geachtetsten<br />

unter ihnen, der auchWalter Benjamin beeinflusste,vertrat die Auffassung,<br />

dass am Ende der Zeiten alle,auch Satan selber,gerettet werden würden.<br />

Eine ewige Hölle gab es bei ihm nicht. Origenes hielt sie für eine dem<br />

Evangelium widersprechende menschliche Fantasie.<br />

Die Idee der Apokalypse sei heute, so sagten Sie, eine Sache der Wissenschaft.<br />

Aktuell denken wir an die Klimakatastrophe. DieÄlteren erinnern sich an die<br />

Furcht voreinem Atomkrieg. DieMenschheit scheint dieVorstellung vonKatastrophen<br />

zu lieben.<br />

Einkleines Beispiel: Es gibt den Brief des Baumeisters der florentinischen<br />

Frührenaissance,Filippo Brunelleschi, er lebte von1377 bis 1446. DerZeitgenosse<br />

vonDonatello,Ghiberti und Masaccio schreibt darin: „Wir leben in einer<br />

Zeit, in der alles zusammenbricht. Nirgends ist ein Talent in Sicht.“ Die<br />

Vorstellung, in einer Endzeit zu leben, scheint eine Konstante zu sein.<br />

Istdas heute nicht doch etwas anders?<br />

Es gibt eine Beschleunigung. Aber ich halte es da mitWalter Benjamin. Für<br />

den stand die Katastrophe nicht am Ende. Ermeinte: „Dass es ,so weiter‘<br />

geht, ist die Katastrophe.“<br />

Sie schreiben, Demokratie und Terrorismus seien zwei Seiten derselben Medaille.<br />

Ich schreibe, dass zu dem, was wir „unser demokratisches System“ nennen,<br />

der Terrorismus gehört.<br />

Gilt das international oder auch national?<br />

Beides.Indem Augenblick, in dem Sicherheit zur Staatsdoktrin wird, wird<br />

eineVerbindung eingegangen mit allem, das diese Sicherheit bedroht.<br />

„Dass es ,so<br />

weiter‘ geht,<br />

ist die<br />

Katastrophe“<br />

Der italienische Philosoph<br />

Giorgio Agamben spricht über die<br />

Faszination von Krisen und<br />

Katastrophen, über das Glück, in den<br />

Texten anderer schwimmen zu<br />

können und über das Projekt Europa<br />

Interview: Arno Widmann<br />

Giorgio Agamben, die rare Verbindung von Philologe und Seher,inseinem<br />

<strong>Berliner</strong> Hotel.<br />

BENJAMIN PRITZKULEIT<br />

Giorgio Agamben …<br />

…wurde am 22. April 1942 im noch nicht vondeutschen Truppen besetzten<br />

Rom geboren. 1965 wurde er mit einer juristischen Dissertation über Simone<br />

Weil promoviert. Er war schon damals u.a. mit Elsa Morante und Pier Paolo Pasolini<br />

befreundet. In dessen Film „Das Evangelium nach Matthäus“ spielte Agamben<br />

den Apostel Philippus.<br />

…lebte in den 70er-Jahren u.a. in Paris und London. 1986-1993 leitete er das<br />

Collègeinternational de philosophie in Paris. 2003 trat er vonseiner Professur<br />

an der NewYork University zurück –aus Protest gegendie US-Regierung,die von<br />

in den USA arbeitenden Ausländernihre Fingerabdrückeverlangte.<br />

…veröffentlichte auf Deutsch zuletzt im Verlag Schirmer/Mosel: „Pulcinella<br />

oder Belustigung für Kinder“.<br />

Aber bildet nicht alles, das existiert, ein System? Auch die Kontrahenten?<br />

Ichglaube schon, dass es so etwas gibt wie ein System. Seiesein bewusst<br />

organisiertes oder ein objektives, das ohne jede Art von Verschwörung existiert.<br />

WerAgamben liest, der liest immer auch in den Gehirnen anderer Menschen.<br />

Agamben zitiertzum Beispiel Aristoteles, interpretiertihn. Plötzlich bemerkt der<br />

Leser,dass er sich nicht mehr mit Agamben im Kopf vonAristoteles bewegt, sondern<br />

in dem vonGiorgio Agamben. Agamben singt plötzlich solo.Wie eine Kadenz<br />

in einem Konzert. DerLeser liest die letzten Zeilen noch einmal. Er sucht die<br />

Stelle, wo die Kadenz begann. Er findet sie nicht.<br />

Wassoll ich dazu sagen?<br />

Das war mein erster Eindruck bei der Agamben-Lektüre. Heute dagegen<br />

glaube ich: Es gibt einen Ozean, der heißt Giorgio Agamben. In dem wiegen<br />

sich alle Autoren und Texte, alle Bilder und Theorien. Nach dessen Strömungsgesetzen.<br />

DieWasser aller Flüsse münden in diesen Ozean. Agamben benutzt<br />

sie alle. Aber er spielt mit all diesen Instrumenten immer seine eigene Melodie.<br />

In Ihrem ersten Eindruck erkenne ich mich wieder. Ich bin auf der Suche,<br />

ich tauche nach entwicklungsfähigen Gedanken. Es geht darum,<br />

das Ungesagte, das Verschwiegene einer Beobachtung, einer Bemerkung<br />

zu entfalten. Ichverstehe sehr gut, dass sie den Punkt nicht finden,<br />

wo der zitierte Autor aufhört und wo Agamben beginnt. Auch ich kenne<br />

ihn nicht. Ich denke auch, dass ich immer noch nichts anderes tue, als<br />

die Entwicklungsfähigkeit des Gedankens eines anderen auszuprobieren,<br />

während ich doch schon hinübergegangen bin in ein Eigenes. Ich<br />

weiß nicht: Ist eres, bin ich es? Ist esAristoteles, ist es Benjamin, ist es<br />

Heidegger oder ist es Agamben? Es ist der Gedanke, der sich entfaltet.<br />

Mal durch jenen Autor, mal durch diesen, mal durch mich.<br />

Undder Ozean?<br />

Ich schwimme in ihm. In den Strömungen Benjamin, Heidegger, Platon,<br />

Aristoteles,Spinoza. Dasmacht mich glücklich.<br />

Sieschwimmen nicht nur in den Texten. Siesurfen auch auf ihnen.<br />

Ich bewege mich nicht über ihnen. Ich sehe mich mehr den Wirbeln folgen,<br />

die die Strömungen bilden. Dort entfalten sich die Entwicklungsfähigkeiten<br />

einer Idee.<br />

Sie haben viel geschrieben über das Sprechen, die Stimme. Sie sind aber doch<br />

Schriftsteller.<br />

Mich hat immer die Möglichkeit fasziniert, im Geschriebenen das Sprechen<br />

zu bewahren. Ich möchte in der Schrift den Analphabetismus bewahren.<br />

Der peruanische Dichter César Vallejo schrieb in einer seiner Hymnen<br />

auf die freiwilligen Kämpfer für die spanische Republik: „Por el analfabeta a<br />

quien escribo“. Für die Analphabeten zu schreiben, das gehört für mich zu<br />

den Aufgaben des Autors.<br />

Siekonzentrieren sich sehr auf die europäische Tradition.<br />

Wasmeinen Sie damit? Washeißt Europa? Werweiß, was Europa ist? Ich<br />

kenne nur jene Dame,die vonZeus in Gestalt eines Stiers vonPhönizien nach<br />

Kreta entführtwurde.<br />

Siehaben sonst keine Vorstellung vonEuropa?<br />

Ich weiß, was alles als Europa durchgeht. Zum Beispiel dieses politische<br />

Europa, das ja gerade kein politisches Europa ist. Das sogenannte „christliche<br />

Europa“ zum Beispiel ist ein Begriff, den Theologen schufen, nachdem<br />

die Länder, indenen das Christentum entstanden war, islamisch geworden<br />

waren.<br />

Undheute?<br />

Machen wir genau dasselbe. Wir greifen zu einem nicht-politischen<br />

Konzept von Europa. Wir reden von der europäischen Tradition des<br />

Rechtsstaats, der Demokratie, von der Wertegemeinschaft usw. Genau<br />

das sollte man nicht machen. Das einzig interessante Konzept von Europa<br />

wäre ein politisches. Das aber gibt es nicht. Überhaupt nicht. Entweder<br />

man redet, ausgehend voneinem säkularisierten christlichen Europa,<br />

von den angeblich Europa prägenden Werten oder aber man behauptet,<br />

das Europa, in dem wir leben, sei ein politisches Europa. Das<br />

existiert aber noch nicht einmal embryonal. Juristisch betrachtet ist Europa<br />

ein Pakt von Nationalstaaten. Eine europäische Verfassung gibt es<br />

nicht. Wo sie einer Abstimmung seitens der Bevölkerungen unterzogen<br />

wurde, wurde sie abgelehnt. Darum wurde auch in Deutschland nicht<br />

über sie abgestimmt.<br />

Wasmüsste getan werden, um zu einem wirklichen politischen Projekt Europa<br />

zu kommen?<br />

Dererste Schritt wäredie Auflösung des derzeitigen Europa.<br />

Manmüsste Europa zerstören, um Europa zu schaffen?<br />

Es gibt kein Europa.Waswir haben, sind auf falschen Papieren beruhende<br />

Verträge zwischen Nationalstaaten.<br />

Siehaben viele Freunde, die diese Überzeugung teilen?<br />

Freunde hat man immer nur wenige.<br />

Deutscherscheinen die Bücher Giorgio Agambens voralleminden Verlagen S. Fischer,<br />

Matthes &Seitz, Merve und Suhrkamp. Im ItalienischenKulturinstitut in der Hildebrandtstraße ist<br />

noch bis zum 30. August eine Ausstellung über das Werk Giorgio Agambens zu sehen.<br />

RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN<br />

Ein postumes Geschenk<br />

der DDR an die BRD<br />

29. Juni 1956<br />

Autobahn: US-Präsident Eisenhower unterzeichnet<br />

das Gesetz zum Aufbau der Interstate<br />

Highways, eines landesweiten Autobahnnetzes<br />

nach deutschem Vorbild. 2016<br />

hatte es eine Länge von77556 Kilometern.<br />

29. Juni 1995<br />

Geschenk der DDR: Im Deutschen Bundestag<br />

wird mit Zweidrittelmehrheit ein neues Abtreibungsrecht<br />

verabschiedet, das einen<br />

Schwangerschaftsabbruch innerhalb der<br />

Präsident Eisenhower im April<br />

1956 in NewYork. IMAGO/ZUMA/KEYSTONE<br />

ersten drei Monate zulässt, falls sich die<br />

Schwangerevorher beraten lässt.<br />

29. Juni 2006<br />

Verfassungswirklichkeit: Der US Supreme<br />

Courtentscheidet im juristischen Streit über<br />

die Gerichtszuständigkeit für Insassen im<br />

Gefangenenlager der Guantanamo Bay NavalBase,dass<br />

die Regierung Bush Rechtsverstöße<br />

begangen habe und verlangt das Anwenden<br />

der Genfer Konventionen.<br />

Und am 29. Juni 1969 in der<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />

Liebesbriefe an die Republik: <strong>Berliner</strong> Liebesbriefe,<br />

geschrieben im 20. Jahr unserer<br />

Republik. Als wir vor sechs Wochen mit<br />

dieser „BZ“-Aktion begannen, haben wir<br />

nicht erwartet, dass Sie, liebe Leser, unserer<br />

Aufforderung so zahlreich folgen wür-<br />

Guantanamo, das US-Gefangenenlager<br />

auf Kuba. IMAGO/ZUMA PRESS<br />

den. Liebesbriefe besonderer Art sind es,<br />

die Sie uns schrieben. Briefe, die in schöner<br />

Weise die Gemeinsamkeit unseres Anliegens<br />

zeigen. Die <strong>Berliner</strong> lieben ihre<br />

Stadt, die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen<br />

Republik. In den letzten<br />

zwanzig Jahren haben sie kräftig mitgeholfen,<br />

daß „Spree-Athen wie ein Phönix<br />

aus der Asche stieg“, wie Hermann Wild<br />

aus Mitte schrieb. Ihr Dank gilt deshalb<br />

auch besonders jenen, die sich unermüdlich<br />

für das Werden und Wachsen unseres<br />

Staates und unserer Stadt eingesetzt haben.<br />

Und sie fühlen sich für das vielfältige<br />

Leben in dieser Stadt immer stärker verantwortlich,<br />

einer Stadt, in der sich täglich<br />

ausländische Besucher von der<br />

Schöpferkraft eines freien Volkes überzeugen,<br />

die kürzlich auch Gastgeber für Vertreter<br />

von mehr als 100 Ländern beim<br />

Welttreffen für den Frieden war. Bis zum<br />

20. Jahrestag der DDR wollen wir Ihre Liebesbriefe<br />

veröffentlichen. Die in ihnen<br />

enthaltenen Erkenntnisse und Erfahrungen<br />

sprechen Bände, heute schon.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

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