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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 148 · 2 9./30. Juni 2019 – S eite 25<br />
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Feuilleton<br />
Die <strong>Berliner</strong> Soulsängerin<br />
Astrid North ist<br />
tot. Ein Nachruf von<br />
Harry Nutt Seite 26<br />
„Bankrottzugehen ist die letzte Todsünde“<br />
Thomas Ostermeier über seine 20-jährige Tätigkeit als künstlerischer Leiter der Schaubühne Seiten 26 und 27<br />
Ricarda Bethke kannte ich<br />
längere Zeit nur als<br />
Stimme. Als ich sie das<br />
erste Mal wahrnahm, war<br />
das durchs Telefon, im Sommer<br />
1998. DieStimme hell, zu hell, schien<br />
mir, zuaufgekratzt für eine Autorin,<br />
die in Zukunft ernst zu nehmen wäre<br />
(wie mir von ernst zu nehmender<br />
Seite beigebracht worden war). Sie<br />
lachte auf meine Frage, obsie etwas<br />
für die Zeitschrift, für die ich Texte<br />
suchte, zur Verfügung hätte. Sie<br />
lachte, womöglich, weil der Titel<br />
unsrer Zeitschrift –Sklaven –missverständlich<br />
war.Ein Irrtum.<br />
Unglückliche Arbeitsverhältnisse<br />
war sie seit langem, nicht erst seitdem<br />
sich der deutsche Osten im<br />
Westen wiederfand, gewohnt. Sie<br />
lachte, weil eigentlich alles, was sie<br />
bis dahin geschrieben hatte, „zur<br />
Verfügung“ stand. Ich wusste nicht,<br />
dass es Material der letzten vier Jahrzehnte<br />
war, unveröffentlicht zum<br />
größten Teil. Heute, 21Jahre später<br />
sieht es nicht viel besser aus, mit einer<br />
großen Ausnahme. Bethke ist<br />
wie wenige, die mir bekannt sind,<br />
mit der Literatur, der Produktion<br />
und Konsumtion von Sprache, eins.<br />
Ein sprachschöpfendes, gesprochenes<br />
Wesen, unersättlich. Beständig<br />
jung im Aufnehmen von allem, was<br />
literarische Reflexion lohnt.<br />
Die frühen Jahren im Osten<br />
Die<br />
Farben<br />
der<br />
Utopie<br />
Eine Würdigung<br />
für Ricarda Bethke,<br />
einst Lehrerin<br />
von Peter Brasch<br />
und Bert Neumann,<br />
Autorin des Romans<br />
„Die anders<br />
rote Fahne“, zum<br />
80. Geburtstag<br />
VonThomas Martin<br />
Als „Unbändige Lehrerin“ wird Ricarda Bethkeam4.Juli im Literaturforum des Brecht-Hauses gefeiert.<br />
FRANZISKA HAUSER<br />
IhrVorname schon deutet es an: Ricarda,<br />
Tochter eines Richard, trägt<br />
ihren Namen der anderen Ricarda,<br />
Huch, zu Ehren. Und wie diese<br />
schürft Bethke tief im Bergwerk des<br />
Humanistischen, nicht nur im<br />
schöngeistigen Schacht, auch in<br />
den Stollen der Geschichte,Philosophie,<br />
Sozialpolitik und der Bildung<br />
vor allem. Jahrzehntelang hat sie<br />
Oberschüler unterrichtet, zunächst<br />
in Angermünde, von 1968 bis 1988<br />
an der Max-Planck-EOS in Berlin-<br />
Mitte – in Deutsch, Geschichte,<br />
Kunst. Mit anderen Worten: Sie hat<br />
Spuren hinterlassen.<br />
Zu ihren Schülerngehörten Peter<br />
Brasch, Dichter, Bert Neumann,<br />
Bühnenbildner, Simone Frost,<br />
Schauspielerin, um nur drei zu nennen,<br />
die ihr zu Freunden wurden<br />
und mit Folgen für die Schule verlorenund<br />
für die Kunst gewonnen waren.<br />
Dass alle drei viel zu früh verstorben<br />
sind, verdunkelt diesen Teil<br />
des Horizonts; geblieben ist doch<br />
einiges. Dass sie im fragilen Rahmen<br />
von Schultheater Uraufführungen<br />
von Einar Schleef, Thomas<br />
Brasch und Lothar Trolle ermöglichte,<br />
muss als literaturgeschichtliche<br />
Fußnote erinnertwerden.<br />
Ricarda Bethke ist als Autorin von<br />
Hörspielen, Radioessays, als Literatur-<br />
und Theaterkritikerin bekannt<br />
geworden. Die junge Frau von damals<br />
60 lächerlichen Jahren, die sie<br />
zählte,als ich auf sie traf, schrieb seit<br />
vielen Jahren unentwegt, nicht nur<br />
an die Tafel, nicht nur in Hefte,auch<br />
an Büchern tippte sie. Die ersten<br />
Texte,die wir in den erwähnten Sklaven<br />
veröffentlichten, waren der<br />
Grundstock für ihr erstes Buch, genauer<br />
dessen erste Kapitel. Schwer<br />
verständlicher Weise sollte dieses<br />
kommende Buch ihr einziges bleiben,<br />
ihr einziger Roman.<br />
Ein Buch aus der deutschen Gesamtrepublik<br />
über die ostdeutsche<br />
Teilrepublik der frühen Jahre. Ein<br />
Buch über eine Zeit der Hoffnung,<br />
eine Zeit der Utopie.Der Titel spricht<br />
das an, Hoffnung wie Vergeblichkeit:<br />
„Die anders rote Fahne“, erschienen<br />
2001. Rezensiert unter dem eingeschränkten<br />
Fokus auf ihre Freundschaft<br />
mitWolf Biermann. Seither arbeitet<br />
sie am Buch über den Vater,<br />
Roman ihres Vaters, Richard wie erwähnt,<br />
Schmincke mit Nachnamen.<br />
Dieser 1875 Geborene, der als<br />
Reichstagsabgeordneter der KPD in<br />
der Republik von Weimar Spuren<br />
hinterlassen hat, der zuvor im frühen<br />
Sowjetrussland, in das er als<br />
Kriegsgefangener kam, gesundheitspolitisch<br />
wirken konnte,der mit dem<br />
sowjetischen Volkskommissar für<br />
Bildung, Anatoli Lunatscharski, befreundet<br />
war,der auf abenteuerliche<br />
Weise mit einem gewissen Mao Bekanntschaft<br />
schloss, bevor der sich<br />
auf seinen Langen Marsch machte,<br />
der Carl von Ossietzky versorgte,<br />
nachdem er aus dem KZ Sachsenhausen<br />
kam –dieser Vater unserer<br />
Autorin brachte sich ums Leben auf<br />
der Flucht vor seinen nationalsozialistischen<br />
Landsleuten, die eben das,<br />
sein Leben wollten. Er nahm es sich,<br />
vor 80Jahren, selbst. Und wurde für<br />
die damals keine anderthalb Monate<br />
alte Tochter zur Hauptgestalt ihres<br />
späteren Schreibens.Nicht nur ihres:<br />
Ernst Schumacher, Brecht-Interpret<br />
und Theaterkritiker schrieb ein<br />
„Poem des Nichtvergessens“ auf, für,<br />
über RichardSchmincke.<br />
Mögen Träume nach einer anders<br />
roten Fahne,einer gesellschaftlichen<br />
Alternative inzwischen mit dem<br />
Stigma der Aussichtslosigkeit, der<br />
Begriff der Utopie selbst Stigma sein,<br />
mögen solche Perspektiven im<br />
Schlaf der Vernunft gezeugte Träume<br />
sein –umsonst geträumt wurden sie<br />
nicht. Es verhält sich mit der Utopie<br />
wie mit der Kunst, der eigentlichen<br />
Ur-Utopie, von der Heiner Müller<br />
sagt, sie kann vor allem eins: Sehnsucht<br />
nach einem besseren Zustand<br />
vonWelt erwecken. Wierevolutionär<br />
diese Sehnsucht ist, sehen wir an<br />
Biografien wie der Ricarda Bethkes.<br />
Ihre Literatur, ihre Erinnerungen<br />
sind aus der antastbaren Zuversicht<br />
geschöpft, die nach der Vertreibung<br />
aus der Hölle der Ideologien bleibt.<br />
Gebrochenes Bewusstsein<br />
Gegen die Zeit, die der vornehmste<br />
Agent des Vergessens ist, vornehm,<br />
weil dieser Agent uns ausnahmslos<br />
alle beschattet, stehen die Kunstwerke<br />
als kulturelles Gedächtnis der<br />
Menschheit. Die Erkenntnis scheint<br />
bei der Lektüre von Ricarda Bethkes<br />
Texten auf. DieFarben ihrer Zeit, die<br />
sie beschreibt, sind überhell und in<br />
Pastell gebunden. DieKlänge,die sie<br />
anschlägt, sind zum hohen Tongemischt,<br />
der die Konturen des verschütteten<br />
kollektiven Gedächtnisses<br />
freilegt, das nicht nur im verwaisten<br />
Denkgebäude DDR dem „unglücklichen<br />
Bewusstsein“<br />
anzurechnen ist, das eben jenes Bewusstsein<br />
ist, dem nach Hegel „nur<br />
das Grab seines Lebens zur Gegenwart<br />
kommt“. Ricarda Bethke<br />
schreibt über dieses Leben wie eine<br />
tapfere Grabräuberin, in dem sie<br />
freilegt und ins Licht zerrt, was verschüttet<br />
war.Humus,immerhin.<br />
DieFacetten dieses in sich gespiegelten<br />
gebrochenen Bewusstseins<br />
hat Bethke gegen das verbreitete<br />
Desinteresse an einer Zukunft für<br />
alle in ihrem –imbesten Sinn naiv<br />
gemalten –Genrebild aufgefächert,<br />
das der Literatur ein Stück Geschichte<br />
wiedergibt. Und Hegel, nebenbei,<br />
ist einer der Protagonisten<br />
ihrer Prosa von Beginn. Mehr noch<br />
ist er einer ihrer Schüler, wenig gebührig,<br />
immer vorgenommen, muss<br />
er zitieren, wird erzitiert. Ihr Hörspiel<br />
„Der große und der kleine Hegel“<br />
erzählt davon. Ricarda Bethke,<br />
unbändige Lehrerin, unersättliche<br />
Leserin, Vorleserin und Schreibende<br />
wirdam4.Juli 80 Jahrejung.