faktor Herbst 2019
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mensch<br />
Mehr als ein<br />
Stehaufmännchen<br />
Man muss weggehen, um wiederkommen zu können. Marc Wallert legte einen weiten Weg<br />
zurück, um wieder anzukommen: in seiner Heimatstadt Göttingen und bei sich selbst.<br />
Im Jahr 2000 wurde er gemeinsam mit seinen Eltern entführt und über Monate im<br />
philippinischen Dschungel als Geisel gefangen gehalten. Heute – rund 20 Jahre später –<br />
berichtet er als Speaker, warum dies für ihn dennoch kein Schicksalsschlag war und wie wir<br />
die Krise als Chance begreifen können.<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE STEPHANIE WOLFF PHOTOGRAPHY & ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Wo beginnt man, wenn man eine Geschichte<br />
erzählen möchte, die mehrere<br />
Anfänge zu haben scheint? Und<br />
in welcher die Vergangenheit und<br />
die Gegenwart – ineinander verschlungen<br />
– erst nach Jahrzehnten<br />
ihren Sinn enthüllen? Denn als Marc Wallert im Jahr<br />
2000 zusammen mit seinen Eltern bei einem Tauch urlaub<br />
in Malaysia entführt wurde, war das ein gravierender<br />
Einschnitt in seinem Leben. „Inzwischen weiß ich, dass<br />
die Entführung eine größere Rolle in meinen Leben hätte<br />
spielen können“, sagt Wallert heute. Er habe damals<br />
nach seiner Freilassung die Chance verpasst, sein Leben<br />
dauerhaft anders zu gestalten.<br />
IM MILLENIUMSJAHR 2000 wollten Marc Wallert und<br />
seine Eltern in Malaysia einfach mal zusammen Urlaub<br />
machen, da er zu jener Zeit in Luxemburg lebte und sie<br />
sich viel zu selten sahen. Der heute 46-Jährige erinnert<br />
sich nur zu gut an den Anfang des Martyriums. Wenige<br />
Tage nach ihrer Ankunft im Taucherparadies war die<br />
Göttinger Familie Wallert in allen Medien. Fast jeder in<br />
Deutschland kannte die Bilder der Entführung, die ausgemergelten<br />
Körper der 21 Gefangenen, ihre notdürftigen<br />
Unterkünfte mitten im Dschungel, die verängstigten<br />
Blicke, die die Kameras der Journalisten einfingen.<br />
Um zu fotografieren, um zu filmen und die Lösegeldforderung<br />
in die Welt zu tragen, durften sich Journalisten<br />
aus aller Welt dem Lager nähern. „Wir waren mitten im<br />
Kampfgebiet und hatten mehr als einmal Todesangst“,<br />
erzählt Wallert rückblickend. Am Ende überlebten alle<br />
Geiseln. Sie wurden nach und nach freigelassen. Der damals<br />
27-Jährige gehörte mit drei weiteren Geiseln aus<br />
Frankreich und Finnland zu den letzten, die gegen Lösegeld<br />
freikamen.<br />
<strong>2019</strong>, NEUNZEHN JAHRE SPÄTER: Treffpunkt ist das<br />
‚Wohnzimmer‘ im Bekleidungsgeschäft Woggon am Göttinger<br />
Wilhelmsplatz, „einem meiner Lieblingsorte“, wie<br />
Wallert gleich bei der Begrüßung erklärt. Er erweist sich<br />
als aufmerksamer und angenehmer Gastgeber, auch<br />
wenn es nicht seine eigenen vier Wände sind. Er macht<br />
Kaffee und holt Wasser in einer Karaffe. Nebenbei beginnt<br />
er bereits zu erzählen, wie es ihm heute geht und<br />
was sich seit damals verändert hat. Besonders seit ungefähr<br />
einem Jahr, als er nach zehn Jahren als Senior Controller<br />
und Bereichsleiter beim Duderstädter Prothesenhersteller<br />
Ottobock den Schritt in die Selbstständigkeit<br />
wagte. Heute ist der sympathische Mitvierziger ein Keynote-Speaker<br />
und Führungskräftetrainer in Richtung<br />
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