faktor Herbst 2019
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wissen<br />
tisch: Der Westen hat mehr zu bieten. Göttingen ist unser<br />
Oberzentrum, Erfurt ist dafür viel zu weit weg.<br />
Simon: Diese Vernetzung mit Göttingen und Nordhessen<br />
war nach der Wende sehr deutlich, aber ich habe den<br />
Eindruck, dass inzwischen eine größere Normalität eingezogen<br />
ist. Die grundsätzliche Orientierung in Richtung<br />
Göttingen gibt es weiterhin, doch insgesamt läuft<br />
die Kundenakquise auch im Handwerk mehr oder weniger<br />
europaweit. Das ist vielleicht eine Besonderheit im<br />
Eichsfeld, dass das meiste an Wertschöpfung außerhalb<br />
der Kreisgrenzen stattfindet.<br />
Haben sich der Wegfall der Zonenrandförderung im Westen<br />
und das Lohngefälle dafür als wirtschaftsförderlicher Vorteil<br />
erwiesen ?<br />
Simon: Gerade das Lohngefälle hat über viele Jahre dazu<br />
geführt, dass sich die Standorte hier stabil und gut entwickelt<br />
haben. In den letzten etwa fünf Jahren stellen<br />
wir aber eine stärkere Angleichung an das Westniveau<br />
fest. Daher wird schon vermehrt die Rechnung aufgemacht,<br />
ob sich das Pendeln für einen nur geringfügig<br />
höheren Stundenlohn noch lohnt.<br />
Henning: Dass durch das Gefälle und die stärkere Förderung<br />
im Osten Betriebe über die Grenze abwandern,<br />
betont man gerade in Duderstadt oft. Da hört dann<br />
auch die große eichsfeldische Gemeinsamkeit auf. Aber<br />
wenn es Umsiedlungen gegeben hat, dann waren das<br />
Einzelfälle. Auch die Neuansiedlungen haben ihre eigene<br />
Geschichte. Ein Beispiel ist die Firma Miritz in<br />
Kirchgandern. Die kamen aus Northeim und waren<br />
dort mit sehr viel Skepsis konfrontiert – wir konnten<br />
uns die gar nicht erlauben. Daher gibt es einige Unternehmen,<br />
die sich bei uns entwickelt haben, weil der<br />
Westen zu starr, zu kompliziert war, während wir freier<br />
und wendiger waren. Heute wird das als Abwanderung<br />
wahrgenommen.<br />
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dass das meiste an Wertschöpfung außerhalb der Kreisgrenzen stattfindet. « Thomas Simon<br />
» Das ist vielleicht eine Besonderheit im Eichsfeld,<br />
Der Landkreis Eichsfeld hat einen negativen Pendlersaldo,<br />
und die Bevölkerung nimmt ab. Welche Perspektiven sehen<br />
Sie mittel- bis langfristig?<br />
Henning: Das lasse ich nicht ganz gelten, denn der ländliche<br />
Raum hat immer eine Zulieferfunktion für die Zentren.<br />
Gleichzeitig haben wir eine Arbeitslosenquote von<br />
um die 3,6 Prozent, womit wir in Thüringen an dritter<br />
Stelle stehen. Ich habe in meiner Zeit als Landrat<br />
38 Schulen schließen müssen – aber jetzt sind wir wieder<br />
dabei, die bestehenden Schulen auszubauen, weil sich<br />
der Trend umkehrt. In Heiligenstadt haben wir das fünfte<br />
Baugebiet erschlossen, bereits abverkauft, und wir kommen<br />
mit der Neuerschließung nicht nach, obwohl die<br />
Preise mit 120 Euro pro Quadratmeter sehr üppig sind,<br />
während die Stadt Eschwege deutlich günstiger anbietet.<br />
Ähnliche Bautätigkeit sieht man auch entlang der Autobahn.<br />
Von der Abfahrt Arenshausen aus sind es nur<br />
20 Minuten bis nach Göttingen.<br />
Simon: Wir profitieren in der Region von der Randlage<br />
und der guten Anbindung an die wirtschaftlich stärkeren<br />
Zentren. Wenn Göttingen wirtschaftlich prosperiert, ist<br />
das gut für uns. Vor allem, wenn es Leuchttürme mit einer<br />
guten Dynamik wie Sartorius gibt. Das zieht Absolventen<br />
aus der Region an oder ermöglicht eine Rückkehr<br />
in die Region und auch das Pendeln von hier aus. Das<br />
darf man nicht unterschätzen. Auf der anderen Seite haben<br />
wir mit dem Institut für Bioprozess- und Analysenmesstechnik<br />
des Landes eine kleine wissenschaftliche<br />
Forschungseinrichtung, die durchaus auch Leute aus<br />
dem Göttinger Raum anzieht.<br />
Sehen Sie denn noch einen Aufhol- oder Nachholbedarf<br />
gegenüber dem Westen?<br />
Simon: Der Lohnabstand ist geringer geworden, auch<br />
wenn er natürlich noch da ist. Aber das ist nur eine<br />
Seite der Medaille. Eine viel größere Aufgabe sehe ich<br />
statt im Unterschied zwischen Ost und West inzwischen<br />
vielmehr bei den unterschiedlichen Lebensverhältnissen<br />
zwischen Stadt und Land. Hinter diesem Auseinanderlaufen<br />
tritt die Grenze als Unterscheidungskriterium<br />
zunehmend zurück.<br />
Henning: Es ist die Frage, was man will. Das Wirtschaftsleben<br />
im Ländlichen und im Osten ist geruhsamer<br />
und nicht so hektisch, während der Westen spannender,<br />
dynamischer ist. Das ist eher ein kultureller Unterschied<br />
als eine Frage des Aufholens.<br />
Wo sehen Sie mittelfristig die Herausforderungen für den<br />
Landkreis?<br />
Simon: Ein Hauptanliegen ist ganz klar der Ausbau des<br />
Breitbandnetzes, um im Ländlichen das ortsungebundene<br />
Arbeiten zu ermöglichen. Aber da sehen wir, dass sich<br />
etwas tut. Insgesamt ist die Zusammenarbeit mit der Politik<br />
hier ziemlich reibungslos und von einer hohen Verlässlichkeit<br />
gekennzeichnet, was eine gute Planung ermöglicht.<br />
Henning: Nach einer Studie der IHK Erfurt sind wir die<br />
arbeitgeberfreundlichste Kommune Thüringens mit einer<br />
sehr hohen Zufriedenheit der Unternehmer. Da sind<br />
wir gut aufgestellt. Eine große Baustelle sehe ich hingegen<br />
beim sozialen Wohnungsbau. Unsere Gemeinden haben<br />
nach der Wende ihren Wohnungsbestand weitgehend abgegeben<br />
und so vernachlässigt, dass sich auch der ,letzte<br />
arme Hund‘ noch eine Unterkunft leisten können muss.<br />
Die Gemeinden sind für diesen sozialen Ausgleich zuständig,<br />
und ich möchte, dass sie das wieder stärker tun.<br />
Vielen Dank für das Gespräch!