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faktor Herbst 2019

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leben<br />

AUF EINEM BOARD ÜBER DER TÜR zum Wohnzimmer<br />

stehen unter anderem ein Nussknacker, Kopien von antiken<br />

Büsten und eine Statue von Maria mit dem Kind<br />

– und zuletzt in dieser Reihe ein Schrumpfkopf. Das Auffällige<br />

an dieser vollkommen disparaten Figurengruppe<br />

ist die formvollendete, geschwungene Linie, die sie bildet.<br />

Dieser intuitive Sinn für Komposition prägte auch viele<br />

ihrer Fotos.<br />

Im Bücherregal findet sich auch ein Fotobuch von<br />

Ingo Bulla mit dem Titel ,Kontakte‘. Früher arbeitete<br />

dieser beim Göttinger Tageblatt und nahm dort die junge<br />

Kollegin von 1987 bis 1990 unter seine Fittiche. „Ingo<br />

Bulla habe ich am meisten zu verdanken“, sagte Niedringhaus<br />

2001 in einem Interview. Das Göttinger Tageblatt<br />

war ihr Sprungbrett zu einer Anstellung bei der<br />

Europäischen Presseagentur (EPA). 2002 ging sie dann<br />

zu AP und war ganz oben auf der Karriereleiter angelangt.<br />

„In den Wochen, in denen sie hier war, war sie ganz<br />

selbstverständlich ein Teil meiner Familie, die sie auch als<br />

die ihre angesehen hat. Ihre eigene Küche hat sie nie genutzt,<br />

sie hat immer mit uns zusammen gegessen“, erzählt<br />

Gide Niedringhaus. Sie hatten viele gemeinsame Freunde.<br />

War die eine eingeladen, kam die andere immer wie selbstverständlich<br />

mit. „Meine Kinder hat Anja wie ihre eigenen<br />

behandelt.“ Sie habe dann in ihrem Büro stundenlang<br />

am Archiv gearbeitet und neue Einsätze vorbereitet. „Sie<br />

war immer online“, erinnert sich ihre Schwester Gide heute.<br />

Was Anja an den Fronten erlebt hatte, davon habe sie<br />

nie viel erzählt. „Mit Sicherheit waren da tiefe Narben,<br />

sowohl körperlich als auch seelisch.“<br />

IN KAUFUNGEN KONNTE UND WOLLTE ANJA auftanken.<br />

Ihr Zuhause, wie sie es in Interviews und gegenüber<br />

Freunden stets bezeichnete, das Leben mit ihrer Schwester<br />

und mit ihren Neffen und Nichten, die „Normalität“,<br />

wie sie es selbst nannte, war für sie ein existentieller Ausgleich<br />

zu den in den Kriegen erlebten Schrecken und<br />

Gräueln. „Wenn ich dieses Zuhause nicht hätte, dann<br />

wäre es ganz unmöglich, mein Leben so zu gestalten, wie<br />

ich es tue“, sagt Anja vor einigen Jahren gegenüber Journalisten<br />

auf die Frage, wie sie das alles „verdauen“ könne,<br />

was sie bei den Kriegseinsätzen erlebe. „Wenn ich dieses<br />

normale Leben in Kaufungen nicht kennen würde, würde<br />

ich den Krieg als normal empfinden.“ Daneben war<br />

es die Sportfotografie, bei der sie die Seele wieder ein<br />

wenig von dem Erlebten befreien konnte.<br />

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