wissen „Göttingen ist unser Oberzentrum“ Landrat Werner Henning und Thomas Simon, Vorstandsvorsitzender des Wirtschaftsforums Eichsfeld, über die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts, die Flexibilität der Eichsfelder und über die Frage, warum die alte Grenze keine Bedeutung mehr hat INTERVIEW SVEN GRÜNEWALD FOTOGRAFIE LUKA GORJUP 78 3 |<strong>2019</strong>
wissen Thomas Simon (l.), geboren 1964 in Heiligenstadt, absolvierte ein Physikstudium in Leipzig (beim Leipziger <strong>Herbst</strong> 1989 war er vor Ort), dann ein Promotionsstudium an der Uni in Göttingen im Bereich Physik. Zunächst war Simon als Technischer Leiter, dann 15 Jahre als Geschäftsführer bei einem Automobilzulieferbetrieb tätig. Seit 2017 ist er Geschäftsführer der Kommunalen Wohnungsgesellschaft (KoWo) Obereichsfeld GmbH in Heiligenstadt und seit 2016 Vorsitzender des Wirtschaftsforums Eichsfeld e. V. Der Göttinger Kreisnachbar Richtung Südosten liegt näher, als die Thüringer Landesgrenze vermuten lässt: Das Eichsfeld bekennt sich klar zum Oberzentrum Göttingen! Naturräumliche Gegebenheiten und historische Verbindungen haben nach der Wende für eine klare Westorientierung gesorgt. Wirtschaftlich hat das Eichsfeld zudem eine sehr gute Entwicklung gezeigt. Grund dafür waren findige Machernaturen, für die vor allem Ergebnisse zählten ..., wie zwei weitere Macher der Region im Gespräch mit <strong>faktor</strong> erklären. Werner Henning (r.), geboren 1956 im Eichsfeld, studierte Lehramt für Deutsch und Musik und promovierte in Kunstwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Von 1986 bis 1988 baute er das Theodor-Storm-Literaturmuseum in Heiligenstadt mit auf, wechselte dann in die Eichsfelder Bekleidungswerke Heiligenstadt. Im stürmischen <strong>Herbst</strong> 1989 wurde er zum Vorsitzenden des Rates des Kreises Heiligenstadt gewählt, danach zum Mitglied der letzten Volkskammer der DDR, zum Landrat des Landkreises Heiligenstadt und ab 1994 zum Landrat des Landkreises Eichsfeld. Herr Henning, Herr Simon, 30 Jahre sind seit der Wende vergangen – was waren die wichtigsten Wegmarken in der Entwicklung des Landkreises Eichsfeld? Werner Henning: Der Wende und dem Zusammenbruch der staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen folgte eine Notsituationsverwaltung mit Arbeitslosenquoten zwischen 20 und 25 Prozent in den frühen 1990er- Jahren. Wir hatten aber das Glück, dass sich im Handwerk kleinere Strukturen besser erhalten hatten als in anderen Teilen der DDR. Daraus konnten sich ganz gut neue wirtschaftliche Strukturen entwickeln, viele alte Betriebe wurden von Eichsfeldern selbst übernommen. Ein großes Glück war für uns auch die enge Verzahnung mit Nordhessen und insbesondere Göttingen – es gab viele Vertreter aus Politik und Wirtschaft, die damals hilfsbereit auf uns zugegangen sind, wodurch wiederum gute Freundschaften entstanden sind. Thomas Simon: Mein Eindruck ist, dass sich die Unternehmerschaft hier ebenfalls mit einer großen Offenheit in den Westen gewandt und dessen Erfahrungen angenommen hat. Unser enormer Vorteil war, dass es anders als in weiten Teilen der DDR noch viele bestehende Kontakte gab – Verwandte, Freunde, Bekannte. Ein Beispiel: Ein Mitglied im Wirtschaftsforum Eichsfeld mit einem Maschinenbaubetrieb hatte seinen Betrieb noch zu DDR-Zeiten aufgebaut. Bekannte im Westen hatten ihm nach der Wende ganz direkt gesagt, dass er das komplett modernisieren muss und was die aktuelle Technik ist. Das hat er gemacht, und mittlerweile ist es ein Betrieb mit internationalen Kunden und über 100 Mitarbeitern, der sich im Wettbewerb behauptet und auch einen Innovationspreis in Göttingen gewonnen hat. Henning: Ein wichtiger Impuls war für uns auch die Wiederbeteiligung am Energieversorger EAM. Vor diesem Hintergrund haben wir eine eigene starke Kommunalwirtschaft entwickelt, quasi ein Modell der Kreiswerke, das es in Deutschland eigentlich nicht gibt. Auf Kreis ebene haben wir gut eine halbe Milliarde Euro in das Anlagevermögen investiert. Das sowie der Bau der A38 haben uns starke Impulse vor allem in der Bauwirtschaft gebracht. Welche Rolle spielen für den Landkreis Eichsfeld der nordhessische und südniedersächsische Raum? Henning: Wir sind im Grunde von Anfang an stark in das regionale Dreiländereck eingebunden worden. Es gibt beispielsweise eine Landrätekonferenz, in der wir uns abstimmen – gegenwärtig über ein regionales Tourismuskonzept. Wir fühlen uns dort gut aufgehoben, vor allem in der ,imaginären Patenschaft‘ von Göttingen. Wichtig ist aber, sich bewusst zu machen, dass diese Westorientierung des Eichsfelds historisch schon immer so war. Das Obereichsfeld ist die Landschaft auf dem Berg, und man orientierte sich in die Richtung, in die das Wasser floss. Für Leinefelde und Heiligenstadt hat sich das Leben daher schon immer in Göttingen abgespielt. Aber ich denke auch egois- 3 |<strong>2019</strong> 79