faktor Herbst 2019
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leben<br />
„Wenn ich das normale Leben in<br />
Kaufungen nicht kennen<br />
würde, würde ich den Krieg als<br />
normal empfinden.“<br />
Anja Niedringhaus<br />
SONYA WINTERBERG ARBEITET DERZEIT mit ihrem<br />
Ehemann Yury im Auftrag der Berliner Ziegler Film an<br />
einem Doku-Drama für das ZDF, das den Lebensweg<br />
von Anja Niedringhaus nachspürt. Die beiden haben<br />
bereits viel beachtete Filme über Käthe Kollwitz, den<br />
Ersten Weltkrieg und zuletzt über Medizinversuche in<br />
Auschwitz produziert. Ein wichtiger Schauplatz im<br />
Film, dessen Sendetermin noch nicht feststeht, wird die<br />
nordhessische Gemeinde Kaufungen sein. Hier hatte<br />
Anja Niedringhaus mit ihrer Schwester Gide das ehemalige<br />
Forstamt gekauft und umgebaut.<br />
Dies war ihr Zuhause, wie sie immer wieder in Interviews<br />
betonte, wenn sie gefragt wurde, wo sie denn von<br />
den traumatischen Erlebnissen im Krieg zur Ruhe käme.<br />
Der parkähnliche Garten voller Blumen, frei laufende<br />
Hofhunde und Katzen, Hühner, die in den Rabatten<br />
scharren, ein Pferdestall im Innenhof – ein krasser Kontrast<br />
zum Kriegsgebiet. In dieser Atmosphäre findet der<br />
vielfach ausgezeichnete Kameramann Jürgen Rehberg<br />
gemeinsam mit Sonya und Yuri Winterberg Bilder, um<br />
die Stimmungen nachzuempfinden, die das Leben der<br />
Fotografin ausgemacht haben.<br />
An der Treppe zu ihrer Wohnung in der ersten Etage<br />
hängt ein großes Bild, das sie mit einem offenen, freundlichen,<br />
dem Betrachter zugewandten Gesicht zeigt. „Das<br />
ist das Foto von Anja, das in der Öffentlichkeit am häufigsten<br />
gezeigt wird“, erzählt ihre Schwester Gide, die<br />
noch heute auf dem Hof lebt. In den Räumen sieht es<br />
genau so aus wie damals, als Anja das Haus verlassen<br />
hat, um zu ihrem letzten und tödlichen Einsatz in Afghanistan<br />
zu fliegen.<br />
In ihrem alten Arbeitszimmer lehnt die Splitterschutzweste<br />
aus graubraunem grobem Segeltuch an einer<br />
Kommode. Man erkennt die vielen Abnutzungsspuren<br />
aus Einsätzen. In der vorderen Tasche steckt noch immer<br />
ein Tourniquet-Abbindesystem. Sie hätte es sofort zur<br />
Hand gehabt, wenn sie im Einsatz an einer Schlagader<br />
getroffen worden wäre. Mehrfach war Anja als Fotografin<br />
bei militärischen Einsätzen schwer verletzt worden,<br />
so in Sarajevo und in Afghanistan.<br />
In den Regalen stehen akribisch sortiert Hefter mit<br />
Negativen, liegen Kameras und andere Foto-Utensilien.<br />
Ihre Digitalfotos hat Anja Niedringhaus auf CDs gebrannt<br />
und diese ordentlich beschriftet in speziellen<br />
Boxen verwahrt, liebevoll Figuren und Mitbringsel von<br />
den vielen Reisen in ferne Länder auf den Fensterbrettern<br />
arrangiert. Auch ein Archiv aller Zeitungsartikel mit<br />
Bildern aus ihren Einsätzen als Fotojournalistin ist hier<br />
zu finden, das Anja einst für eine spätere Verwendung<br />
angelegt hatte.<br />
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