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Rußlandbericht

Der Rußlandbericht von Gisela Mikuteit

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wussten wir aber damals nicht. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Ofen, der

aber nicht benutzt werden konnte. Die Toilette bestand aus einem viereckigen Loch in

der Außenwand des Wagens. In das Loch waren zwei Bretter schräg zueinander

geschoben, die mit Gefälle nach außen zeigten. Die Frauen, die dort in der Nähe

lagen, waren immer unangenehmen Gerüchen ausgesetzt.

Ich fand ganz schnell Anschluss an Ira, einer Dolmetscherin. Sie kannte niemand im

Wagen. Sie stammte aus Polen und konnte sich deshalb mit den Posten verständigen.

Heute begreife ich nicht mehr, dass wir damals gesungen haben, als die Tür fest

verriegelt worden war. Was sangen wir? Alle Lieder, die uns einfielen auch das

Nationallied. Wir glaubten, dass wir vor Posen schon befreit werden könnten. Die

Posten polterten gegen die Tür, wir sollten ruhig sein. Auch aus allen anderen Wagen

hörten wir Gesang.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Jemand meinte, dass wir 1600 Menschen,

davon 1000 Frauen und 600 Männer seien. Die Frauen im Alter von 14 bis 59 Jahren

und die Männer im Alter von 13 bis 82 Jahren, allerdings fehlten die mittleren

Jahrgänge, die Soldaten waren. Nur einige Kriegsbeschädigte waren dabei. Einen mit

steifen rechten Arm lernte ich später kennen, der mir das noch bestätigte.

Das Erwachen am nächsten Morgen war bitter. Wir an der Luke stellten fest, dass wir

schon hinter Posen waren. Keine Befreiung. Viele weinten vor Verzweiflung. Hunger

und das erbärmliche Lager im Waggon taten das Ihrige dazu.

Einmal am Tag bekamen wir Graupenbrei im Kübel hinein gereicht. Niemand

kümmerte sich darum, wie wir das essen, ein Glück, dass wir Frauen fast alle ein

Gefäß, wie Tasse, Teller oder Becher und einen Löffel hatten. Ältere Frauen teilten

das Essen aus, damit alle ihren Anteil bekamen. Der Brei war sehr stark gesalzen.

Außerdem war er sehr dick und nicht ab geschmeckt. Jeden Tag bekamen wir das

Gleiche. In den ersten Tagen gab es auch etwas Kaffee, leider nur wenig.Täglich

wurden uns zwei Scheiben hartes geröstetes Brot und zwei Würfelzucker zugeteilt.

Der Gedanke an die Männer ließ uns nicht los. Wie sollten sie die Graupen essen?

Ohne Besteck, ohne Gefäße? Wer kann das einteilen? Werden sie bei dem Essen die

Fahrt überstehen? Es waren nicht unsere Angehörigen und doch sorgten wir uns um

sie.

Später erfuhren wir, dass sie mit den Händen Essen schöpften, weil sie so aus

gehungert waren. Es hat aber mancher weniger bekommen, weil andere stärker

waren.

Jeden Morgen wurden wir gezählt. Dabei mussten alle auf die eine Seite des Wagens

und dann auf die andere Seite des Wagens laufen. Wir nannten das unter uns

"Viehzählung“.Immer, wenn die Tür geöffnet wurde, standen mehrere Posten mit

Gewehr im Anschlag bereit. Man fürchtete, dass jemand zu fliehen versucht.

Ira, eigentlich Irene, wurde oft zum Dolmetschen geholt. So erfuhr ich aus erster

Hand Neuigkeiten. Wir verstanden uns gut und teilten meine Decke. Ich denke noch

mit einem Gefühl der Freundschaft an sie, weiß aber leider nicht, was aus ihr

geworden ist.

Am schwersten trugen die Männer ihr Schicksal. So wurde Ira gerufen bei Verhören

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