1 - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
1 - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
1 - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/92 1<br />
2.2 Zur Deutung der neuen sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong><br />
2.2.1 Angst als treibendes Motiv?<br />
Luhmanns Beschreibung einer historischen Stufenfolge<br />
relevanter Sozialbewegungen von Normkonflikten<br />
über Verteilungskonflikten zu den heutigen<br />
neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> ist nicht neu. Sie entspricht<br />
in den beiden ersten Stufen dem, was Raschke<br />
(1980) als politischen Paradigmenwandel von Herrschaftskonflikten<br />
zu Verteilungskonflikten charakterisiert<br />
hat. Eigentümlich, wenngleich ebenfalls nicht<br />
unbedingt originell (gleichlautend Eder 1986), ist<br />
dagegen die Benennung von Angst undRisikobewußtsein<br />
als Kernelement neuer sozialer <strong>Bewegungen</strong>:<br />
"...auffallend dann die Nicht-Zufälligkeit, daß hier<br />
Angst eine Rolle spielt" (1986c). Während der Autor<br />
die Realität ökologischer Probleme noch in den 80er<br />
Jahrenfür ein"lebbares Risiko" (ebd.) hielt, verortete<br />
er die eigentliche Bedrohung in der von den <strong>Bewegungen</strong><br />
betriebenen Angstkommunikation: "eine in<br />
der Rhetorik aufgekochte Angst ohne verläßliches<br />
empirisches Fundament" (ebd.).<br />
Gegen die Reduzierung des heutigen Zentralkonflikts<br />
auf Angstkommunikation gibt es mehrere Einwände.<br />
Zum ersten sind die damit bezeichneten<br />
<strong>Bewegungen</strong> nicht so neu, daß erst heute von der<br />
Zentralität von durch kontingente Entscheidungen<br />
ausgelösten Ängsten gesprochen werden könnte.<br />
Gravierende technologische Neuerungen waren historisch<br />
häufig von Abwehrbewegungen begleitet, in<br />
denen neben der Verteidigung überkommener Rechte<br />
und kultureller Identität auch die Angst vor einer<br />
ungewissen Zukunft eine Rolle spielte. 2<br />
Vor allem<br />
aber war spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts<br />
die Angst vor der Zerstörungskraft neuer Waffen ein<br />
treibender Faktor der historischen Friedensbewegungen.<br />
Zum zweiten lassen sich auch die heutigen Friedensund<br />
Ökologiebewegungen nicht einfach auf den Faktor<br />
Angst zurechtstutzen. Gewiß spielt er eine wichtige,<br />
in den <strong>Bewegungen</strong> selbst durchaus reflektierte<br />
Rolle. Erinnert sei nur an die "Thesen zum Atomzeit<br />
alter", in denen Günther Anders bereits 1959 die<br />
Mobilisierungspraxis des Protests gegen die Atombewaffnung<br />
in die Gebote fate: "Habe keine Angst<br />
vor der Angst, habe Mut zur Angst. Auch den Mut,<br />
Angst zu machen. Ängstige deinen Nachbarn wie<br />
dich selbst."(1972:98) Diese "Angstkommunikation"<br />
war jedoch keineswegs "irrational" fundiert,<br />
sondern wollte jene herrschende "Apokalypseblindheit"<br />
aufbrechen, die in Atomraketen nur eine Weiterentwicklung<br />
der Artillerie sehen wollte. Realitätsgehalt<br />
- durchaus orientiert am Stand der Wissenschaft<br />
- und Selbstbewußtsein, d.h. die gestaltende<br />
Einmischung in Politik, unterscheiden moderne von<br />
historischen "Angstbewegungen". Zudem ist unverkennbar,<br />
daß heute auch die Kritik an der Verschwendung<br />
gesellschaftlicher Reichtümer, an technokratischen<br />
Entscheidungsstrukuren, an einer der politischen<br />
Kontrolle entgleitenden Machtverflechtung<br />
militärischer und industrieller Komplexe eine bedeutende<br />
Rolle in diesen <strong>Bewegungen</strong> spielt. Greift man<br />
etwa den Widerstand gegen den Bau der Startbahn<br />
West als einen der größten und intensivsten Konflikte<br />
in der Bundesrepublik heraus, so dürfte "Angst" eher<br />
ein marginaler Faktor gewesen sein. Gleiches ließe<br />
sich für herausragende ökologische Konflikte im<br />
Ausland behaupten, denkt man etwa an den Bau eines<br />
Staudamms in Nordnorwegen, die Fluregulierung<br />
der oberen Loire, die Alaska-Pipeline, den neuen<br />
Tokioter Flughafen und die Abholzung von Redwoodbeständen<br />
im nördlichen Kalifornien.<br />
Zum dritten indizieren personelle, organisatorische<br />
und thematische Verflechtungen zwischen der Friedens-<br />
und Ökologiebegung einerseits und einer ganzen<br />
Reihe von Einzelbewegungen andererseits, darunter<br />
die der Frauen, Schwulen, Hausbesetzer und<br />
selbstverwalteteten Betriebe, daß Angstkommunikation<br />
wahrlich nicht den übergreifenden Nenner der<br />
neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> darstellen kann. Ingesamt<br />
geht es vielmehr um die Kritik von Herrschaftsstrukturen,<br />
um individuelle und kollektive Autonomie,<br />
um kulturelle Codes und Fragen der Lebensweise.<br />
Auch in rein quantitativer Hinsicht sollte nicht<br />
vergessen werden, daß beispielweise die Abtreibungsfrage<br />
in den USA und die anti-rassistische<br />
Bewegung in Frankreich mit die größten Mobilisierungen<br />
unter den neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> zuwe-