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1 - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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30 FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/92<br />

liehen Bereichen verknüpfen, eigene Milieus, Netzwerke,<br />

Organisationen, Öffentlichkeiten entfalten<br />

und gerade daraus ihre Dynamik, Dauerhaftigkeit<br />

und Antwortvielfalt gewinnen. Sie sind eben von<br />

Anbeginn nicht nur Protest, der ein verändertes Handeln<br />

oder Entscheiden von anderen erwartet, sondern<br />

suchen selbst nach Alternativen - von der Wohngemeinschaft<br />

bis zum Frauenhaus, von der Stadterneuerung<br />

bis zur Energiepolitik.<br />

Eine andere Facette der reduktionistischen Position<br />

Luhmanns besteht in der Unterstellung, die neuen<br />

sozialen <strong>Bewegungen</strong> täten so, als könnten sie Gesellschaft<br />

von außen beschreiben und vor allem von<br />

außen kritisieren 3<br />

, obgleich ihre Kommunikation<br />

doch "auf vielfältige Weise, positiv wie negativ,<br />

durch die Gesellschaft bedingt (ist), gegen die sie sich<br />

wendet" (1986b). Zu dieser Gesellschaft gebe es aber<br />

keine ersthafte Alternative. Verfehlt sei zudem die<br />

Charakterisierung der Gegenseite als "bürgerliche<br />

Gesellschaft", da dies "auf einen Protest gegen die<br />

funktionale Differenzierung hinauslaufe: denn das ist<br />

das Prinzip, auf das sich die besonderen Leistungen<br />

und die problematischen Folgen der modernen Gesellschaft<br />

zurückführen lassen" (1986b).<br />

Auchdiese Stilisierung der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong><br />

geht in mehrfacher Weise an der Sache vorbei.<br />

Einerseits setzt Luhmann den Anspruch der neuen<br />

sozialen <strong>Bewegungen</strong> zu tief und zu radikal an.<br />

Anders als die Neue Linke positionieren sie sich<br />

mehrheitlich gerade nicht antipodisch zur "bürgerlichen<br />

Gesellschaft". Auffallend ist vielmehr die positive<br />

Besetzung von deren Begriffen, wie sie etwa in<br />

der Selbstbezeichnung als Bürgerinitiativen zum<br />

Ausdruck kommt. Zweitens sind die neuen sozialen<br />

<strong>Bewegungen</strong> überwiegend durch einen "selbstbegrenzten<br />

Radikalismus" (Jean L. Cohen) geprägt, der<br />

weder in toto die Prinzipien funktionaler Differenzierung<br />

bekämpft noch sich außerhalb dieser Gesellschaftstellt.<br />

Sieht man von Randgruppen ab, so zielen<br />

sie keineswegs auf eine Rückkehr zu "segmentärer<br />

Differenzierung (von Wohngemeinschaften?) oder<br />

auf eine politbürokratischeHierarchisierung von Gesellschaft..."<br />

(1986b), wie Luhmann glauben macht.<br />

Auch wird gar nicht recht erkennbar, was mit der<br />

Behauptung gemeint sein soll, die <strong>Bewegungen</strong> täten<br />

so, als könnten sie außerhalb der Gesellschaft stehen.<br />

Andererseits wiederum verharmlost Luhmann gleichermaßen<br />

gesellschaftliche Zustände wie den Anspruch<br />

neuer sozialer <strong>Bewegungen</strong>. Erstens ist ja<br />

nicht zu bestreiten, daß z.B. die Möglichkeit der<br />

zivilen wie nuklearen "extermination", die massive<br />

Diskriminierung von Frauen, die Ausbeutung von<br />

Ländern der Dritten Welt und die Beinträchtigung<br />

der natürlichen Lebensgrundlagen zum bedrückenden<br />

Problembestand der so gepriesenen hochkomplexen<br />

Systeme gehören. Was also beinhaltet das "nötige<br />

Ja zur Gesellschaft", das Luhmann als einzig<br />

vernünftig zu nennende Position ausweist? Zweitens<br />

neigt er trotz des zu tief angesetzten Veränderungsanspruchs<br />

der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> wiederum<br />

zu deren Verharmlosung, indem er sie wahlweise als<br />

bloße Problemanzeiger, als Störgeräusche verursachende<br />

Angstkulisse oder als einen an emsthafter<br />

politischer Opposition desinteressierten "Njet-Set"<br />

beschreibt.<br />

Mit der Abwertung der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong><br />

korrespondiert das unkritische Loblied auf die Leistungen<br />

funktionaler Differenzierung. Weder läßt<br />

sichjedoch funktionale Differenzierung als eindeutiger<br />

und unumkehrbarer evolutionärer Mechanismus<br />

begreifen noch sollten seine Folgekosten unterschätzt<br />

werden. Waren nicht in der Ära des liberalen Kapitalismus<br />

Wirtschaft und Staat in höherem Maße als<br />

heute ausdifferenziert und hatte nicht eben diese<br />

Differenzierung soziale Kosten, die zu einem heilsamen<br />

Entdifferenzierungsprozeß führten, dessen Ergebnis<br />

als "moderner Wohlfahrtsstaat" nicht nur<br />

Luhmann (1981) beredt verteidigt?<br />

Die hinter der Komplexitätsrhetorik stehenden Positionen<br />

sind erst jüngst wieder als konservative oder<br />

gar reaktionäre Topoi mit einer langen Ahnenreihe<br />

kritisiert worden (Hirschman 1990). Es genügt an<br />

dieser Stelle der Hinweis, daß Luhmann im Umgang<br />

mit Widerspruch und Protest eine Argumentationsfigur<br />

variiert, die in der deutschen Soziologie eine<br />

beachtliche Rolle spielt(e). Aus der Gehlenschen<br />

Institutionenphilosophie wissen wir, daß Reflexion -<br />

von Widerspruch gar nicht zu reden - die Stabilität<br />

von Institutionen gefährdet. Als "Gängelungsphilosophie"<br />

hatte sie Ulrich Sonnemann (1981:296) einmal<br />

treffend charakterisiert.

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