Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen
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Konstruktion einer Küstenidentität<br />
und zu einer gemeinschaftlichen Aktion sowie ein Begriff, der der Idee Form und<br />
Kontur gab und der den Rückgriff auf „Geschichte“ für die Artikulation des<br />
Selbstbildes eines Ortes begründete. Hier sichert also nicht ein Monument das<br />
Wissen über ein vergangenes Ereignis bzw. die lokale Geschichte, sondern im<br />
Gegenteil, man sucht, findet und erfindet eine erinnernswerte Geschichte, um sich<br />
ein Wahrzeichen setzen zu können. Und weil es über den kleinen Küstenort kein<br />
herausragendes Ereignis zu erinnern und keine kollektiv relevante Geschichte zu<br />
erzählen gibt, stiftet man sich den Anlass eben etwa aus einem Heimatroman. In<br />
diesem Fall hat Marie Ulfers „Windiger Siel“ die Vorlage geliefert. Willkür und<br />
Zufälligkeit scheinen die historische Skulptur wie die Gedenkfeier geprägt zu haben.<br />
Im Ergebnis schuf die Initiative ein Selbstbild und führte zur Erfindung wie<br />
Verstetigung spezifischer Vergangenheitsvorstellungen, die sich dem Anspruch der<br />
Initiatoren nach in der Skulptur verdichten, aber auch unabhängig von ihr wirken.<br />
Ob die Skulptur in Zukunft für Betrachter die zugeschriebene Bedeutung als Beleg<br />
der historischen Blüte und Modernität transportiert, <strong>zum</strong>al sie aufgrund ihrer<br />
Formsprache durchaus nicht nur als emanzipatorische, sondern vor allem als sexistische<br />
Skulptur auslegbar ist, und ob sie nicht vielmehr aufgrund ihrer zentralen<br />
Lage <strong>zum</strong> lokalen Treffpunkt und Zentrum der Mental Maps Carolinensiels wird,<br />
sei dahingestellt. Doch vieles spricht dafür, dass sich die geschaffene lokale Identität<br />
auch unabhängig von der Skulptur verstetigt. Deutlich wird dies etwa im Begriff<br />
„cliner Wind“, der eine zunehmend wichtigere Metapher zur lokalen Selbstverständigung<br />
wurde und <strong>zum</strong> Label nach innen und außen avancierte. Sukzessive<br />
ging das damit benannte und aus dem Heimatroman gestiftete Geschichtsbild als<br />
gesichertes „Wissen“ in das lokale Bewusstsein ein. Im Laufe des Forschungsprozesses<br />
wurde ersichtlich, dass immer wieder und öfter der Begriff „cliner Wind“<br />
auch ungefragt den Gegenstand der Interviews bildete. Für die Jubiläumsfeier führte<br />
der überregional bekannte Shantychor sogar ein eigens vom Chorleiter, Hans<br />
Janssen, geschriebenes Heimatlied mit dem Titel „Cliner Wind“ auf. Mittlerweile<br />
ist das Bild der vergangenen ökonomischen, politischen sowie sozialen Blütezeit<br />
des Ortes unter dem Begriff „cliner Wind“ fester Bestandteil des lokalen Alltagsdiskurses<br />
und -wissens geworden. Es handelt sich um geglaubte mündliche<br />
Ortsgeschichte.<br />
Noch ein anderer Aspekt verdient Aufmerksamkeit: Die identitätsstiftende Suche<br />
nach Geschichte und Bedeutung bedarf, so zeigt sich am Beispiel der Caroline,<br />
der Konkretion nicht nur im Materiellen, der Verdinglichung der Ortsgeschichte in<br />
diesem Fall im „ewigen“ Material Bronze (Wagner 2001: 11), sondern auch der<br />
Konkretion durch Haptik. Die Skulptur soll angefasst werden, so will es sein Initiator,<br />
so legen es auch die Künstler an. Dafür haben sie nicht nur – wie beauftragt –<br />
das Knie, sondern auch das Gesäß blank poliert. Bei der Einweihung setzte sich<br />
dann tatsächlich nicht das Knie als Favorit der Berührung durch, sondern vielmehr<br />
das Gesäß. Initiator Hillerns selbst pries es in seiner Festrede als mögliche Stelle<br />
an, um durch Handanlegen „Energie aufzunehmen, Gedanken und Sehnsüchte in<br />
die Welt zu schicken“.<br />
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