Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen
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Michael Toyka-Seid<br />
heute immer weiter angeschwollen. 76 Gruppen wie „Kraftwerk“, die „Einstürzenden<br />
Neubauten“ oder „Throbbing Gristle“ loten die Lärmresistenz ihrer Fans aus<br />
und finden dabei gleichermaßen enthusiastische wie lärmresistente Aufnahme.<br />
Über ein Konzert der letztgenannten „Elektrolärmlegende“ titelte die Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung: „Die Freude war groß, der Lärm gewaltig.“ 77 Nicht von ungefähr<br />
wirbt die Lärmschutzvereinigung Widema auf ihrem Internet-Auftritt „Fluchlärm“<br />
mit einem dem Dirigenten Herbert von Karajan zugeschriebenen Zitat:<br />
„Lärm ist der hörbare Müll unserer Zivilisation!“ 78 Ob der große Dirigent allerdings<br />
voraussah, dass im Jahr 2008 eine Europäische Gesetzesnovelle den Geräuschpegel<br />
von Symphonieorchestern als un<strong>zum</strong>utbar für die Orchestermusiker<br />
bewerten sollte, 79 sei dahingestellt.<br />
Noch in einer weiteren Hinsicht führte die Erfahrung des technisierten Krieges,<br />
verbunden mit den neuen politischen und gesellschaftlichen Chancen der entstehenden<br />
Konsumgesellschaft, zu Veränderungen der kulturellen Wahrnehmung<br />
der Moderne, die nicht ohne Folgen für die Rezeption des Lärms blieb. Die städtische<br />
Geräuschkulisse erfuhr einen Bedeutungs- und Bewertungswandel. In Romanen<br />
wie „Berlin Alexanderplatz“ oder auch im neuen Medium des Films wurde das<br />
hektische und ruhelose städtische Getriebe thematisiert, wobei die Faszination der<br />
nimmermüden Großstadt eindeutig der kulturskeptischen Sicht auf den Moloch<br />
Stadt den Rang abzulaufen begann. Walter Ruttmann, der mit dem Erfolgsfilm<br />
„Symphonie der Großstadt“ einen (Stummfilm-)Klassiker dieser neuen Rezeptionsweise<br />
verantwortete, legte 1939 eine Hör-Collage „Großstadt Weekend“ vor,<br />
die einen frühen Versuch darstellt, die vielfältig faszinierend-erschreckende Geräuschkulisse<br />
der modernen Stadt einzufangen. 80 Ihren emphatischsten Ausdruck<br />
fand die Wertschätzung der neuen, lärmdurchtosten Zeit jedoch im futuristischen<br />
Manifest Luigi Russolos: „Das Leben der Vergangenheit war Stille. Mit der Erfindung<br />
der Maschine im 19. Jahrhundert entstand das Geräusch. Heute triumphiert<br />
das Geräusch souverän über die Sensibilität der Menschen.“ Was benötigt werde,<br />
sei eine „Geräuschkunst“, mit der „durch Auswahl, Koordinierung und Beherrschung<br />
aller Geräusche die Menschen um eine neue, ungeahnte Wollust“ bereichert<br />
werden sollten. 81 Der Beitrag der von Russolo selbst entwickelten neuen<br />
Instrumente wie des „intonarumori“ (des „Geräuschtöners“) für die moderne Musik<br />
allerdings blieb gering.<br />
76 Zeitschrift für Lärmbekämpfung 7 (1956): 5.<br />
77 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4.1.2006.<br />
78 http://www.widema.de/fluchlaer/index.html (zuletzt besucht am 5.4.2009).<br />
79 Nach der am 15.2.2008 in Kraft getretenen EU-Richtlinie <strong>zum</strong> Lärm am Arbeitsplatz darf am<br />
Arbeitsplatz eine Dauerbelastung von 85 Dezibel nicht überschritten werden; in Orchestern werden<br />
dagegen Spitzenwerte von 135 Dezibel gemessen (das entspricht ungefähr der Lautstärke eines in<br />
wenigen Metern Entfernung startenden Düsenflugzeugs), der Dauerpegel liegt um die 100 Dezibel.<br />
80 Vgl. Toyka-Seid (2005): 223f.<br />
81 Russolo (1913).