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Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen

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Brigitta Schmidt-Lauber<br />

Die Ritualisierung ist gewünscht und gerichtet. Auch Interviewpartner scheuten<br />

sich nicht, hierfür selbstbewusst den Trevi-Brunnen oder die Spanische Treppe<br />

in Rom und eben selbst die religiöse Pilgerreise nach Mekka als Vorbilder zu nennen,<br />

die mit allseits bekannten Ritualisierungen assoziiert werden. Auch damit ist<br />

die Figur wieder historisch verankert. Mekka und Spanische Treppe fungieren als<br />

geliehene Patina und historisch verbürgtes, gewichtiges Bedeutungspotential.<br />

Das Wahrzeichen weist, wenn man so will, einen „intendierten Aberglauben“<br />

auf, der seinerseits traditionsstiftend wirkt. Die in diesem Zusammenhang vom<br />

Ortsvorsteher in Anspruch genommene Übertragung von Heilkräften durch Berührung<br />

mag befremdlich wirken; sie rekurriert auf eine geläufige religiöse Praxis<br />

und überträgt diese auf profane und vergleichsweise periphere Kontexte: das Berühren<br />

von Reliquien, Gräbern und Heiligenbildern. Neben der – durch ihren<br />

Glanz wie ihre Patina – „würdiges Altern“ suggerierenden Bronze (Rübel 2002)<br />

zeigt sich auch darin erneut das Bemühen um Verewigung und Bedeutungsaufladung.<br />

Die angestellten Vergleiche mit Rom und Mekka wie die gesamte Aktion haben<br />

vielleicht einen ungewollt komischen Beigeschmack. Und doch ist die Carolinensieler<br />

Skulpturfindung keine absurde Marginalie. Es handelt sich vielmehr um<br />

die lokale Version eines globalen Phänomens: um das Bedürfnis nach historischer<br />

Verankerung und nach einer historisch fundierten Identität nämlich, um ein allgemeines<br />

Begehren nach Geschichte (vgl. Assmann u. Frevert 1999; Niethammer<br />

2000; Köstlin 2002; Schneider 2005) – hier manifestiert in einer lokalen Denkmalssehnsucht<br />

und -erfindung. Schon die Rekonstruktion des Hafens in historisierender<br />

Ästhetik in den 1980er Jahren zeigte diese breite gesellschaftliche Wertzuschreibung<br />

von Geschichte auch in Carolinensiel. Nicht zufällig wurden damit gesellschaftliche<br />

Vorstellungen und Normen der früheren Zeit, wie sie sich im Parkplatz<br />

gespiegelt hatten, der in den 1960er Jahren anstelle des Hafens gebaut wurde,<br />

durch neue, historisierende Symbole abgelöst. Nach der Jahrtausendwende wurde<br />

der Ruf nach historischer Legitimierung erneut betont und verfestigt durch eine<br />

breitere museale Aufbereitung des Ortes und seiner Gebäude (vgl. Kreutz 2005).<br />

Die Formulierung des französischen Historikers und Publizisten Pierre Nora,<br />

demnach wir im „Zeitalter des Gedenkens“ leben (Nora 1984,. 2002), ist bis heute<br />

zutreffend und zeigt sich auch in randständigen Orten.<br />

Für die anhaltende, ja wachsende Bedeutung der Vergangenheit in lokalen und<br />

globalen Diskursen gibt es inzwischen viele Erklärungen. Hier seien nur ein paar<br />

Stichworte genannt. Mitunter werden die Rückbesinnungen als kulturelle Nachklänge<br />

des Holocaust gedeutet. Nach einer weiteren These ist die Zunahme an<br />

Rückblicken unter anderem Ausdruck und Folge des ökonomischen Wohlstands –<br />

der amerikanische Historiker Jay Winter stützt diese Deutung in seinen Reflexionen<br />

über den „Memoryboom“ (2001). Der Sozialpsychologe Harald Welzer (u.a.<br />

2006) wiederum erklärt den verstärkten individuellen Rückgriff auf Vergangenheit<br />

durch die wachsende Unsicherheit in der persönlichen Lebensplanung. Damit<br />

orientiert sich der Sozialpsychologe an der noch immer am meisten verbreiteten<br />

Erklärung: an der Kompensationstheorie, wie sie besonders Herrmann Lübbe

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