Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen
Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen
Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium ... - Oapen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
172<br />
Brigitta Schmidt-Lauber<br />
Die Ritualisierung ist gewünscht und gerichtet. Auch Interviewpartner scheuten<br />
sich nicht, hierfür selbstbewusst den Trevi-Brunnen oder die Spanische Treppe<br />
in Rom und eben selbst die religiöse Pilgerreise nach Mekka als Vorbilder zu nennen,<br />
die mit allseits bekannten Ritualisierungen assoziiert werden. Auch damit ist<br />
die Figur wieder historisch verankert. Mekka und Spanische Treppe fungieren als<br />
geliehene Patina und historisch verbürgtes, gewichtiges Bedeutungspotential.<br />
Das Wahrzeichen weist, wenn man so will, einen „intendierten Aberglauben“<br />
auf, der seinerseits traditionsstiftend wirkt. Die in diesem Zusammenhang vom<br />
Ortsvorsteher in Anspruch genommene Übertragung von Heilkräften durch Berührung<br />
mag befremdlich wirken; sie rekurriert auf eine geläufige religiöse Praxis<br />
und überträgt diese auf profane und vergleichsweise periphere Kontexte: das Berühren<br />
von Reliquien, Gräbern und Heiligenbildern. Neben der – durch ihren<br />
Glanz wie ihre Patina – „würdiges Altern“ suggerierenden Bronze (Rübel 2002)<br />
zeigt sich auch darin erneut das Bemühen um Verewigung und Bedeutungsaufladung.<br />
Die angestellten Vergleiche mit Rom und Mekka wie die gesamte Aktion haben<br />
vielleicht einen ungewollt komischen Beigeschmack. Und doch ist die Carolinensieler<br />
Skulpturfindung keine absurde Marginalie. Es handelt sich vielmehr um<br />
die lokale Version eines globalen Phänomens: um das Bedürfnis nach historischer<br />
Verankerung und nach einer historisch fundierten Identität nämlich, um ein allgemeines<br />
Begehren nach Geschichte (vgl. Assmann u. Frevert 1999; Niethammer<br />
2000; Köstlin 2002; Schneider 2005) – hier manifestiert in einer lokalen Denkmalssehnsucht<br />
und -erfindung. Schon die Rekonstruktion des Hafens in historisierender<br />
Ästhetik in den 1980er Jahren zeigte diese breite gesellschaftliche Wertzuschreibung<br />
von Geschichte auch in Carolinensiel. Nicht zufällig wurden damit gesellschaftliche<br />
Vorstellungen und Normen der früheren Zeit, wie sie sich im Parkplatz<br />
gespiegelt hatten, der in den 1960er Jahren anstelle des Hafens gebaut wurde,<br />
durch neue, historisierende Symbole abgelöst. Nach der Jahrtausendwende wurde<br />
der Ruf nach historischer Legitimierung erneut betont und verfestigt durch eine<br />
breitere museale Aufbereitung des Ortes und seiner Gebäude (vgl. Kreutz 2005).<br />
Die Formulierung des französischen Historikers und Publizisten Pierre Nora,<br />
demnach wir im „Zeitalter des Gedenkens“ leben (Nora 1984,. 2002), ist bis heute<br />
zutreffend und zeigt sich auch in randständigen Orten.<br />
Für die anhaltende, ja wachsende Bedeutung der Vergangenheit in lokalen und<br />
globalen Diskursen gibt es inzwischen viele Erklärungen. Hier seien nur ein paar<br />
Stichworte genannt. Mitunter werden die Rückbesinnungen als kulturelle Nachklänge<br />
des Holocaust gedeutet. Nach einer weiteren These ist die Zunahme an<br />
Rückblicken unter anderem Ausdruck und Folge des ökonomischen Wohlstands –<br />
der amerikanische Historiker Jay Winter stützt diese Deutung in seinen Reflexionen<br />
über den „Memoryboom“ (2001). Der Sozialpsychologe Harald Welzer (u.a.<br />
2006) wiederum erklärt den verstärkten individuellen Rückgriff auf Vergangenheit<br />
durch die wachsende Unsicherheit in der persönlichen Lebensplanung. Damit<br />
orientiert sich der Sozialpsychologe an der noch immer am meisten verbreiteten<br />
Erklärung: an der Kompensationstheorie, wie sie besonders Herrmann Lübbe