Hingerichtet in München-Stadelheim - NS-Dokumentationszentrum ...

Die Sondergerichte erhielten überdies eine immer größere Bedeutung in der allgemeinen
Rechtsprechung, da die Staatsanwälte mit Kriegsbeginn die Möglichkeit bekamen, prinzipiell
jedes Delikt vor einem Sondergericht anzuklagen, wenn sie eine rasche Aburteilung für nötig
hielten. 20 Bei Verstößen gegen die „Volksschädlingsverordnung“ vom 5. September 1939 21
sollten ebenfalls die Sondergericht tätig werden. 22 Diese Verordnung richtete sich gegen jegliche
Vergehen und Verbrechen, die unter Ausnutzung der besonderen Kriegsumstände begangen
wurden, und dehnte den Strafrahmen selbst bei leichten Delikten wie etwa kleinen
Diebstählen bis hin zur Todesstrafe aus. In der inflationäre Anwendung der Todesstrafe, die
von 1933 bis 1945 durch insgesamt 26 Gesetze und Verordnungen ermöglicht und gefördert
wurde 23, spiegelt sich die für das NS-Regime typische Entwertung des menschlichen Lebens
wider.
Besonders brutal kam diese Haltung gegenüber den unterworfenen Völkern und den als rassisch
minderwertig eingestuften Gruppen zum Tragen. Im Protektorat Böhmen und Mähren,
also der als autonomes Gebiet eingegliederten „Resttschechei“, herrschte, vor allem seitdem
Reinhard Heydrich dort im September als „Stellvertretender Reichsprotektor“ den kaltgestellten
Konservativen Konstantin von Neurath ablöste, ein brutales Standrecht, mit dem
der tschechische Widerstand gebrochen werden sollte. Dieser Terror steigerte sich noch
erheblich nach dem Attentat auf Heydrich vom 27. Mai 1942, dem dieser am 4. Juni erlag.
Das für Polen und Juden erlassene Sonderstrafrecht vom 4. Dezember 1941 24 bildete eine
Grundlage für harte Urteile insbesondere gegen Polen 25, weniger gegen Juden, denn zu diesem
Zeitpunkt hatte ihre systematische Ermordung bereits begonnen. Die dreizehnte Verordnung
zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 – einem der beiden antisemitischen Nürnberger
Gesetze – verfügte denn auch lapidar: „Strafbare Handlungen von Juden werden
durch die Polizei geahndet.“ 26 Aber auch die Strafhoheit gegen andere „Fremdvölkische“,
vor allem Polen und aus der Sowjetunion stammende Ostarbeiter, wurde immer mehr von
der Gestapo übernommen. Neben der Einweisung in die Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager
führte sie auch zunehmend standrechtliche Hinrichtungen durch. Anlässe hierfür
konnten unter anderem „reichsfeindliches Verhalten“, „schwere Disziplinwidrigkeiten“ oder
der verbotene Geschlechtsverkehr mit Deutschen sein. 27
Die Todesstrafenstatistik der Justiz des Dritten Reichs, in der die Lynchjustiz der Polizei nicht
berücksichtigt ist, gibt also insofern bei weitem kein vollständiges Bild. Doch auch die Todesurteile
der regulären Justiz während der ersten Kriegsjahre betrafen zu einem großen Anteil
Nichtdeutsche, so im Jahr 1942 rund 55 Prozent. 28
20 Angermund, Richterschaft S. 204 f.
21 RGBl. I 1679.
22 Gerhard Werle: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin, New York 1989,
S. 269.
23 Nationalsozialistische Justiz und Todesstrafe. Eine Dokumentation zur Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt
Wolfenbüttel. Braunschweig 1991, S. 5.
24 RGBl I 759.
25 Als Beispiel hierzu Wolf-Dieter Mechler: Kriegsalltag an der „Heimatfront“. Das Sondergericht Hannover
1939–1945. Hannover 1997, S. 203–226.
26 Zit. nach Werle, Justizstrafrecht, S. 450.
27 Ebenda, s. 598.
28 Evans, Rituale, S. 872.
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