20.04.2013 Aufrufe

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Lage, sich einige Meter im Hausflur an einem<br />

Gehgestell auf kleinen Rollen vorwärts zu bewegen.<br />

Mit einer ungeheuren Energie hat er immer<br />

wieder versucht, von seiner Wohnungstür zur<br />

Haustür hin- <strong>und</strong> herzuschlurfen. Er ist dann<br />

immer wieder umgefallen, weil er die Bewegungen<br />

nicht richtig koordinieren konnte.<br />

Oft fiel Giamblanco aufs Gesicht, weil er auch die<br />

Arme nicht richtig koordiniert bewegen konnte.<br />

Angelica Berdes musste mehrmals den Krankenwagen<br />

holen. Trotzdem war dieser Besuch für<br />

mich ermutigend, weil ich merkte, es gibt doch<br />

ein bisschen Hoffnung - <strong>und</strong> Giamblanco kämpft,<br />

er will nicht aufgeben. Aber Angelica Berdes<br />

sagte mir auch, dass sie psychisch <strong>und</strong> physisch<br />

am Ende ist. Dass sie es kaum noch verkraftet,<br />

Orazio aufzuheben, wenn er gefallen ist, ihn auf<br />

die Toilette zu setzen oder ihn immer wieder zu<br />

stutzen, wenn er versucht, ein paar Meter zu<br />

gehen.<br />

1999 hatte Giamblanco gelernt, einige Meter mit<br />

einer Krücke zu gehen - links oder rechts <strong>und</strong><br />

dann auf der anderen Seite <strong>unter</strong>gehakt durch<br />

Angelica oder Efthimia Berdes. Er hatte weiterhin<br />

Depressionen, weinte viel. Man durfte ihn nicht<br />

auf den Überfall ansprechen, der sich drei Jahre<br />

zuvor in Brandenburg ereignet hatte. Doch der<br />

Gesamteindruck war: Es geht ein bisschen besser.<br />

Im vergangenen Jahr bin ich mit zur Krankengymnastik<br />

gefahren <strong>und</strong> habe dort ein kleines<br />

W<strong>und</strong>er erlebt. Giamblanco konnte mit einer<br />

Stützschiene am linken Bein in dem Gymnastikraum<br />

alleine vorwärts schwanken - etwa zwei<br />

Meter. Danach verließ ihn die Kraft. Er musste<br />

dann wieder in den Rollstuhl gesetzt werden.<br />

Aber immerhin, er hatte es geschafft, aus eigener<br />

Kraft zwei Meter zu gehen, vier Jahre nachdem<br />

ihm der Rechtsextremist die Baseballkeule gegen<br />

den Kopf geschlagen hatte.<br />

Vergangene Woche habe ich Orazio Giamblanco<br />

wieder besucht. Er ist inzwischen umgezogen,<br />

nachdem er aus einem Fonds für Opfer rechter<br />

<strong>Gewalt</strong>, den der B<strong>und</strong>estag in diesem Jahr initiiert<br />

hat, 300 000 DM bekommt hat. Mit diesem Geld<br />

hat er sich <strong>und</strong> seiner Lebensgefährtin eine neue<br />

Wohnung gekauft. Diese Wohnung ist größer, es<br />

sind etwas mehr als 80 qm. Giamblanco kann mit<br />

dem Rollstuhl um die Ecke fahren. Er hat wieder<br />

ein bisschen mehr Mut <strong>und</strong> auch mehr Kraft, sich<br />

vorzustellen, was er im Leben noch machen<br />

konnte. Zum Beispiel einen Urlaub in seiner Heimat<br />

Sizilien. Aber er muss auch Rückschläge<br />

hinnehmen.<br />

epd-Dokumentation 49/2002 17<br />

Das sind nicht ganz unübliche Beispiele, wie<br />

Behörden mit Opfern umgehen. Ein Beispiel. Im<br />

vergangenen Jahr (2000) verschrieb ihm sein<br />

Hausarzt eine Spezialtherapie, die in Hamburg in<br />

einer Privatklinik angewandt wird. Orazio Giamblanco<br />

ist mit Angelica Berdes <strong>und</strong> ihrer<br />

Tochter dort hingefahren. Doch in Hamburg hieß<br />

es: wer bezahlt das? Dann wurde von der Klinik<br />

aus bei der AOK angerufen <strong>und</strong> beim Versorgungsamt<br />

in Cottbus, das für diesen Fall auch<br />

zuständig ist. Beide Institutionen haben sich geweigert,<br />

die Spezialtherapie zu bezahlen. Angelica<br />

<strong>und</strong> Efthimia Berdes haben Giamblanco dann<br />

nach Bielefeld zurückgebracht. Dieses Jahr gab<br />

es Stress wegen eines elektrischen Rollstuhls, den<br />

der Hausarzt verschrieben hatte. Der Antrag landete<br />

zuerst bei der AOK Westfalen/Lippe. Die<br />

AOK Westfalen/Lippe schickte Giamblanco <strong>und</strong><br />

seinem Hausarzt einen Fragebogen. Da wurde<br />

gefragt, ob Giamblanco einen Rollstuhl mit<br />

Handhebel benutzen kann. Giamblanco <strong>und</strong> auch<br />

der Hausarzt glaubten, damit sei der elektrische<br />

Rollstuhl gemeint, <strong>und</strong> kreuzten an. Die AOK<br />

behauptete nun aber, ein Handhebel sei nicht<br />

gleichbedeutend mit dem elektrischen Handhebel,<br />

den so genannten JoyStick, wie es bei der AOK<br />

heißt. Also bekommt Giamblanco diesen Rollstuhl<br />

nicht. Später hat die AOK allerdings festgestellt,<br />

dass sie für diesen Fall gar nicht zuständig<br />

war, <strong>und</strong> reichte die Unterlagen weiter an das<br />

Versorgungsamt Bielefeld. Dort wurde mir gesagt,<br />

wir sind eigentlich auch nicht zuständig, das<br />

Versorgungsamt in Cottbus müsse jeden Schritt<br />

genehmigen. Zur Erinnerung:<br />

Das Versorgungsamt in Cottbus hat im letzten<br />

Jahr die Bezahlung der Spezialtherapie in Hamburg<br />

abgelehnt.<br />

Ich möchte zum Abschluss noch etwas sagen zu<br />

den Ursachen von Rechtsextremismus im wiedervereinigten<br />

Deutschland - wie ich sie sehe. Ich<br />

betone, ..«wie ich sie sehe«. Bei mehreren Veranstaltungen<br />

habe ich erlebt, dass beispielsweise<br />

Ostdeutsche sehr kritisch reagiert haben. Ich habe<br />

vor zwei Wochen einen Vortrag gehalten vor<br />

einem Lehrerkollegium an einer Gesamtschule in<br />

Frankfurt (Oder) <strong>und</strong> habe auch dort über die<br />

Ost- <strong>und</strong> West-Ursachen gesprochen. Die von mir<br />

genannten »Ostursachen« riefen heftige Kritik<br />

hervor. Ostdeutschland hat ein erheblich größeres<br />

Problem mit rechter <strong>Gewalt</strong> als Westdeutschland.<br />

Die Straftatenzahlen sind in der Regel drei bis<br />

vier mal so hoch, gerechnet auf Taten pro<br />

100 000 Einwohner. Warum? Ostdeutschland hat<br />

56 Jahre mit zwei Diktaturen verbracht. Die zwei<br />

Diktaturen sind nicht auf eine Stufe zu stellen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!