20.04.2013 Aufrufe

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

Gewalt, Rassismus und Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Sie tat dies mit einem klaren Vorwurf, dass nämlich<br />

die Kriegsgeneration die eigene Schuld verschweige.<br />

Daher sollte von nun an die Schuld des<br />

deutschen Volkes im Unterricht thematisiert werden:<br />

die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler sollten diese<br />

Schuld annehmen <strong>und</strong> sich in die Last der Überlieferung<br />

fügen. Auch heute noch bestimmt diese<br />

Haltung sehr oft die Form des Unterrichtens. Der<br />

eigene lebensgeschichtliche Bezug zu Nationalsozialismus<br />

<strong>und</strong> Krieg wird in der Regel von Lehrkräften<br />

im Unterricht nicht thematisiert. Eigene<br />

Kriegserfahrungen, die bei Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern,<br />

die in den 30er <strong>und</strong> 40er Jahren geboren<br />

wurden, oft die zentralen Traumata der Kindheit<br />

bedeuten, prägen jedoch ihre Haltung zu dieser<br />

historischen Epoche. In der unreflektierten, verdeckten<br />

Form der Weitergabe der Schuldvorwurfe<br />

an die nächste Generation kann die Lebensgeschichte<br />

der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer so zu einem<br />

Hemmnis der Lernprozesse werden.<br />

Die Geschichte der für den Holocaust<br />

gr<strong>und</strong>legenden Ideologien,<br />

also des <strong>Rassismus</strong> <strong>und</strong> des Antisemitismus,<br />

die Geschichte der Psychiatrie <strong>und</strong> der Eugenik<br />

sind Voraussetzung für ein tieferes<br />

Verständnis des Holocaust. Für die pädagogische<br />

Alltagsarbeit sind diese Zusammenhänge<br />

bei weitem zu komplex. Daher versuchen<br />

wir, aus den <strong>unter</strong>schiedlichen Perspektiven<br />

der Einzelnen in Entscheidungssituationen<br />

Erzählungen über Geschichte<br />

anzubieten.<br />

Umgekehrt kann die thematisierte eigene Erfahrung,<br />

die Erzählung aus der eigenen Lebens- <strong>und</strong><br />

Familiengeschichte die Neugier <strong>und</strong> Empathie der<br />

<strong>Jugendlichen</strong> befördern. Denn die Kinder des<br />

Volkes der Täter waren ja tatsächlich Opfer des<br />

Krieges, eine Erfahrung, die aktualisiert <strong>und</strong> mit<br />

heutigen Kriegserfahrungen verglichen werden<br />

kann. Die Erfahrung der Opfer des Holocaust<br />

hingegen versperrt sich der Aktualisierung. Sie<br />

hat keine Parallele, ist kaum oder schwer kommunizierbar.<br />

Wird nun die eine durch die andere<br />

Erfahrung in der Absicht ersetzt, einen Lernprozess<br />

im Feld der ethischen Orientierung in Gang<br />

zu setzen, so läuft dieser Prozess in die Falle.<br />

Die eigenen unverarbeiteten Schuldgefühle der<br />

Kinder der Täter <strong>und</strong> Zuschauer, die als Movens<br />

den pädagogischen Prozess treiben, richten sich<br />

als Anspruch der Schuldübernahme an die <strong>Jugendlichen</strong>.<br />

Je länger die Zeit des Nationalsozialismus<br />

zurückliegt, desto weniger sind junge<br />

Menschen in Deutschland bereit, diese moralische<br />

Forderung zu akzeptieren.<br />

Jugendliche in Deutschland heute<br />

epd-Dokumentation 49/2002 37<br />

In unseren Schulen <strong>und</strong> Jugendgruppen sitzen<br />

schon lange nicht mehr nur <strong>und</strong> oft auch nicht<br />

mehr in der Mehrheit Jugendliche aus »ethnisch«<br />

deutschen Familien. Eine Familiengeschichte zu<br />

haben, in der kein Bezug auf die Verbrechen des<br />

deutschen Volkes in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert besteht<br />

oder die ihre Erzählungen aus der Perspektive der<br />

Opfer auf die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges<br />

bezieht, das ändert die Interessen <strong>und</strong> auch die<br />

Projektionen der Lernenden bei der Beschäftigung<br />

mit diesem Gegenstand. Wenige Familien dürften<br />

ohne Bezug auf diese Ereignisse sein. Aber die<br />

Perspektiven wechseln. Eine wesentliche Forderung<br />

der Geschichtsdidaktik ließe sich hier durch<br />

die Erzählung der Familiengeschichten einlösen:<br />

Multiperspektivität. Geschichtserzählungen gehören<br />

aber nur noch selten zum alltäglichen Kommunizieren<br />

zwischen den Generationen in unserer<br />

Gesellschaft.<br />

Es ist daher eine besonders wichtige Funktion des<br />

Geschichtslernens, den Austausch über die <strong>unter</strong>schiedlichen<br />

Erinnerungen an die jüngere <strong>und</strong><br />

jüngste Geschichte in der multikulturellen Gesellschaft<br />

zu organisieren. Die Lehrenden dürfen<br />

dabei nicht ihre eigene Perspektive als Leitlinie<br />

nehmen; dennoch ist die Setzung, dass deutsche<br />

Geschichte im Mittelpunkt des Geschichts<strong>unter</strong>richts<br />

in Deutschland steht, nicht anzugreifen.<br />

Eine Beschäftigung mit der Umwelt, in der ein<br />

Jugendlicher aufwächst, ist Voraussetzung für die<br />

Entwicklung der eigenen Selbstverständigung.<br />

Empirische Untersuchungen über die Entwicklung<br />

von historischem Bewusstsein bei <strong>Jugendlichen</strong><br />

aus Migrantenfamilien zeigen, wie komplex der<br />

Prozess der Bezugnahme auf die deutsche Geschichte<br />

verläuft. Der eine Jugendliche identifiziert<br />

sich als »Fremder« mit den Opfern der Verfolgung<br />

<strong>und</strong> erklärt sich das fremdenfeindliche<br />

Verhalten heutiger Deutscher als Kontinuum zu<br />

den Berichten über die NS-Zeit. Ein anderer<br />

möchte seine Position in der Aufnahmegesellschaft<br />

umgekehrt durch eine Übernahme der<br />

Position der Täter festigen. Für die pädagogische<br />

Praxis bedeutet das eine wachsame Beobachtung<br />

der Formen der Verarbeitung, die von den <strong>Jugendlichen</strong><br />

entwickelt werden. Besonders die<br />

Fantasien über Geschichte müssen als wichtiges<br />

Arbeitsmaterial in den Lernprozess integriert <strong>und</strong><br />

nicht als Störungen ausgeschlossen werden.<br />

Erinnerung <strong>und</strong> Zukunft<br />

»Erinnerungsarbeit« ist im Zusammenhang der<br />

Pädagogik über den Holocaust als langfristiger

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!