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III. Die Antike und ihre Nachtseite

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173<br />

tums, auf die ursprüngliche, heilige <strong>und</strong> legitimierende Funktion der Dichtung in<br />

der Gesellschaft an:<br />

Orgiasmus, festliche Raserei in gesetzlichen Gebräuchen, die einen<br />

geheimen heiligen Sinn umhüllt, war ein wesentlicher Bestandteil des<br />

mysthischen Götterdienstes.[…] Wir müssen uns diese Musik, welche<br />

die mystischen Tänze, Gesänge <strong>und</strong> Gebräuche begleitete, als einen<br />

beinah nur rhythmischen Lärm denken, der durch trunkne Leidenschaftlichkeit<br />

Wohllaut <strong>und</strong> gesetzmäßige Schönheit zu ersetzen<br />

suchte. 504<br />

Schon an diesen Vorzeiten der griechischen Dichtung sei festzustellen, daß<br />

Poesie eine Art von Begeisterung sei <strong>und</strong> als solche von den Göttern komme. 505 In<br />

dieser Hinsicht ist Schlegels Periodisierung der griechischen Literatur in drei Epo-<br />

chen (episches, dramatisches <strong>und</strong> lyrisches Zeitalter) wichtig. Das alte Epos, des-<br />

sen Vertreter Homer ist, zeichne sich durch die Nüchternheit aus, „sein Charakter“<br />

sei „stille Besonnenheit, nicht heilige Trunkenheit.“ 506 Dadurch zeigt Schlegel,<br />

daß ihm die von den homerischen Werken geleistete ,Arbeit am Mythos‘ 507 nicht<br />

entgeht. Sie seien der ursprünglichen, mystischen, orphischen Erfahrung abhold<br />

gewesen, weisen keine „Ahndung des Unbedingten“ oder keine „alles erzeugende<br />

<strong>und</strong> alles erhaltende Urkraft“ 508 auf. Der hellen homerischen Welt gehören Gott-<br />

heiten wie Dionysos <strong>und</strong> Demeter nicht an; sie seien die neuen, fremden Götter,<br />

mit denen eine neue Epoche anbreche; sie seien zwar schon aus ältesten Sagen be-<br />

kannt gewesen, hätten aber erst später eine tiefere Bedeutung <strong>und</strong> eine „eben da-<br />

durch neu <strong>und</strong> fremd gewordene Gestalt“ 509 erhalten.<br />

Der gemeinschaftsstiftende Charakter des neuen Gottes werde im lyrischen<br />

Zeitalter an der Erfindung des Chors durchaus ersichtlich. <strong>Die</strong>se Poesie, die so eng<br />

mit der Musik zerschmilzt, daß man wohl von einer „poetischen Musik“ reden<br />

kann, besitze anders als die homerische „Beziehungsvolles, Gegenwärtiges, Wirk-<br />

504<br />

KA I, S. 399f.<br />

505<br />

Schlegel behauptet mit Rückgriff auf Plato, daß: „Der Dichter, wenn er auf dem<br />

Dreifuße der Musen sitze, nicht bei Sinnen sei, sondern wie eine Quelle alles Zuströmende<br />

willig von seinen Lippen fließen lasse.“ KA I, S. 404.<br />

506<br />

KA I, S. 409.<br />

507<br />

Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Sonderausgabe, Frankfurt a. M. 1996, S.<br />

175: „Nun ist die Entstehung des Epos nicht identisch mit der des Mythos; im Gegenteil,<br />

jene setzt als Arbeit am Mythos schon die lange Arbeit des Mythos am Urstoff der Lebenswelt<br />

voraus.“<br />

508<br />

KA I, S. 410.<br />

509<br />

Ebenda, S. 427.

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