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III. Die Antike und ihre Nachtseite

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erregte Affekte gekennzeichnete dithyrambische Dichtung solle als Vorbild für die<br />

moderne deutsche Dichtung gelten. Obwohl die Gottheit dieser Poesie immer auf<br />

Latein (Bacchus) erwähnt wird, also von Dionysos in engem Sinn keine Rede ist,<br />

ist diese Darstellung des ,Dionysischen‘ bahnbrechend für weitere fruchtbare<br />

Entwicklungen.<br />

<strong>Die</strong>se Ansätze finden im zeitgenössischen Sturm <strong>und</strong> Drang, dessen Pro-<br />

duktion sich auf die Aufwertung der Empfindsamkeit, der erregten Gefühle <strong>und</strong><br />

des Rausches richtet, den geeigneten Nährboden. „Aus dem griechisch verklärten<br />

Bild der ,schönen Natur‘ in der Geniezeit entwickelt sich das dionysische Phäno-<br />

men.“ 492 <strong>Die</strong>ser Mode hat selbst Goethe seine Achtung gezollt, als er 1772 das<br />

später in Dichtung <strong>und</strong> Wahrheit als „Halbunsinn“ gebrandmarkte Gedicht Wand-<br />

rers Sturmlied 493 im dithyrambischen Stil zu Papier brachte, wo die Rede von<br />

„Bromios“ als „Jahrh<strong>und</strong>erts Genius“ ist.<br />

Das Unbehagen gegenüber der analytischen Vernunft, deren Grenzen das<br />

epochale Ereignis der Französischen Revolution dramatisch ans Tageslicht ge-<br />

bracht hatte, liegt den romantischen Bemühungen um die Neubegründung der<br />

Mythologie zugr<strong>und</strong>e; der historische Hintergr<strong>und</strong> verleiht ihnen deshalb den Zug<br />

einer dringenden, nicht länger vermeidbaren Notwendigkeit. Von den Forderun-<br />

gen des Älteste[n] Systemprogramm[s] des Deutschen Idealismus, wo utopischer<br />

Elan nach einer radikalen Erneuerung der gesellschaftlichen Bedingungen mit der<br />

Entstehung einer Neuen Mythologie einherschreitet, wurde im ersten Kapitel be-<br />

reits berichtet. <strong>Die</strong> Klage um den Verlust einer sich als Gemeinde konstituieren-<br />

den Öffentlichkeit verschränkt sich aufs engste mit dichtungstheoretischen Ansät-<br />

zen <strong>und</strong> mit der Neudefinition der der Poesie zukommenden Rolle. Eine<br />

bedeutende Funktion innerhalb der kulturellen Debatte um 1800 übernimmt Fried-<br />

rich Schlegel, dessen Einfluß nicht nur auf den Bereich der Philosophie be-<br />

schränkt bleibt, sondern sich auf das Feld der neu begründeten Altertumswissen-<br />

schaft (auf seine Lehre beriefen sich unter anderen Nietzsches Professor Ritschl<br />

<strong>und</strong> hervorragende Philologen wie Friedrich Gottlieb Welcker <strong>und</strong> Karl Otfried<br />

Müller) erstreckt.<br />

492 M. L. Baeumer, „<strong>Die</strong> romantische Epiphanie des Dionysos“, in: Monatshefte für<br />

deutschen Unterricht, deutsche Sprache <strong>und</strong> Literatur 57 (1965), S. 226.<br />

493 MA I/1, S. 198.

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