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III. Die Antike und ihre Nachtseite

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nicht erlernte Fertigkeit, sondern ursprüngliche Natur. Ihre Bildung war keine<br />

andre als die freieste Entwicklung der glücklichsten Anlage.“ 496 <strong>Die</strong>se <strong>und</strong> ähnli-<br />

che Beschreibungen der griechischen Gesellschaft als vollkommenes, harmoni-<br />

sches Gebilde sind deutlich von Winckelmann geprägt. Schlegel betont jedoch den<br />

mythischen Ursprung der antiken Poesie, <strong>und</strong> „wie jede freie Entwicklung des<br />

Dichtungsvermögens“ einen gr<strong>und</strong>legenden Faktor der gesellschaftlichen Legiti-<br />

mierung angesichts der für die modernen Lebensformen charakteristischen Zer-<br />

splitterung <strong>und</strong> Zerrissenheit bildet:<br />

Dichtung, Gesang, Tanz <strong>und</strong> Geselligkeit – festliche Freude war das<br />

holde Band der Gemeinschaft, welches Menschen <strong>und</strong> Götter verknüpfte.<br />

Und in der Tat war auch der Sinn <strong>ihre</strong>r Sage, Gebräuche <strong>und</strong><br />

besonders <strong>ihre</strong>r Feste, der Gegenstand <strong>ihre</strong>r Verehrung das echte<br />

Göttliche: die reinste Menschheit. 497<br />

<strong>Die</strong>se Vorzüge der griechischen Bildung seien schon in den Urbildern der<br />

Gattungen Epos <strong>und</strong> Lyrik, <strong>und</strong> zwar jeweils bei Homer <strong>und</strong> Pindar nachweisbar.<br />

<strong>Die</strong> attische Tragödie bleibe jedoch „die trefflichste unter den Griechischen<br />

Dichtarten“ 498 <strong>und</strong> habe <strong>ihre</strong>n Gipfel mit Sophokles erreicht; an dieser Stelle ver-<br />

wendet Schlegel eine ,dionysische‘ Terminologie, die Nietzsches Geburt der Tra-<br />

gödie sehr nah steht:<br />

Im Gemüte des Sophokles war die göttliche Trunkenheit des Dionysos,<br />

die tiefe Erfindsamkeit der Athene, <strong>und</strong> die leise Besonnenheit<br />

des Apollo gleichmäßig verschmolzen. Mit Zaubermacht entrückt seine<br />

Dichtung die Geister <strong>ihre</strong>n Sitzen <strong>und</strong> versetzt sie in eine höhere<br />

Welt; mit süßer Gewalt lockt er die Herzen, <strong>und</strong> reißt sie unwiderstehlich<br />

fort. 499<br />

Trotz der zwiespältigen <strong>und</strong> zerrissenen Lage, in der sich die Gegenwart be-<br />

findet, hält Schlegel an dem Glauben an eine strahlende Zukunft der deutschen<br />

Dichtung weiterhin fest, die mit Goethes Werken bereits angebrochen sei. Ihre<br />

Aufgabe sei nämlich die Überwindung des Interessanten <strong>und</strong> die Synthese des In-<br />

teressanten mit dem Objektiven, – die Zeit sei reif genug für eine wichtige Revo-<br />

lution der ästhetischen Bildung, wie der kurze Blick auf alle wichtigsten, mit den<br />

griechischen vergleichbaren deutschen literarischen Erscheinungen am Ende des<br />

496 KA I, S. 276.<br />

497 Ebenda, S. 277.<br />

498 Ebenda, S. 296.<br />

499 Ebenda, S. 298.

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