07.10.2013 Aufrufe

III. Die Antike und ihre Nachtseite

III. Die Antike und ihre Nachtseite

III. Die Antike und ihre Nachtseite

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

164<br />

nicht“) 477 ist mithin eher als Gestus der Selbstdarstellung zu begreifen. An dieser<br />

Stelle greift Nietzsche übrigens die Beschränktheit <strong>und</strong> die Überspezialisierung<br />

der deutschen Altphilologen mit Ausnahme von Burckhardt an. Ein Vorwurf, der<br />

jedoch nur auf spätere Entwicklungen der Altertumswissenschaft während des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zutrifft. Seine Selbstporträtierung als prótos euretés ist folglich<br />

nichts anderes als „bewußte rhetorische Übertreibung.“ 478<br />

<strong>Die</strong> Dionysos-Renaissance am Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurzelt in der<br />

schmerzlich empf<strong>und</strong>enen Legitimationskrise des Gemeinwesens. Das analytische<br />

Denken der Aufklärung mit seiner Entzauberung <strong>und</strong> Auflösung der Religion <strong>und</strong><br />

des Mythos hatte der bürgerlichen Gesellschaft traditionelle Mittel <strong>ihre</strong>r Legiti-<br />

mation <strong>und</strong> Selbstrechtfertigung entzogen <strong>und</strong> die Dichtung vieler herkömmlicher<br />

Stoffe beraubt. Es ist kein Zufall, wenn die theoretischen Entwürfe einer neuen<br />

Mythologie eng mit der Debatte über den Vorrang der Dichtung zusammenhän-<br />

gen. Der heftigen Kritik, der die Aufklärung die Mythologie als Erscheinung der<br />

Unvernunft oder im besten Fall als Fabel ausgesetzt hatte, 479 war der Verdacht,<br />

daß „rationale Verfahren selbst mythoid geworden“ 480 sind, noch fremd. <strong>Die</strong> kriti-<br />

sche Analyse vermag bloß jede Legitimation anzuzweifeln <strong>und</strong> erschöpft <strong>ihre</strong><br />

Aufgabe auf einer rein negativen Ebene, da sie sich einer ebenso scharfen Selbst-<br />

kritik nie unterzieht. Indem die romantische Bewegung gegen diese Ansicht Stel-<br />

lung bezieht <strong>und</strong> die Auffassung von Mythen als Zeugnisse alter abergläubischer<br />

<strong>und</strong> nicht aufgeklärter Zeiten heftig bekämpft, zielt sie nicht auf die Wiederbele-<br />

bung von alten, längst vergangenen <strong>und</strong> nicht mehr glaubbaren Göttergeschichten,<br />

sondern auf eine neue Sinnstiftung der Gesellschaft, welche sich als Gemein-<br />

schaft, als Einheit von Subjekt <strong>und</strong> Objekt versteht. Das soll unter dem Zeichen<br />

der „Neuen Mythologie“ erfolgen, welche die symbolische Identität zwischen äu-<br />

477 Ebenda, S. 153.<br />

478 M. L. Baeumer, „Das moderne Phänomen des Dionysischen <strong>und</strong> seine ‚Entdekkung‘<br />

durch Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 133. Vgl. auch ders.,<br />

„Nietzsche and The Tradition of the Dionysian“, in: J. C. O’Flaherty/T. F. Sellner/R. M.<br />

Helm (Hrsg.), Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, Chapel Hill 1976, S. 165-<br />

189. 479 Vgl. H. Gockel, Mythos <strong>und</strong> Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung <strong>und</strong><br />

Frühromantik, Frankfurt a. M. 1981, S. 1-27. Eine umfassende Darstellung der Mythostheorien<br />

der Aufklärung <strong>und</strong> der Romantik bietet J. de Vries, Forschungsgeschichte<br />

der Mythologie, Freiburg/München 1961, S. 83-197.<br />

480 M. Frank, Der kommende Gott, a. a. O., S. 192.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!