Zwischen Zwei Welten: Vietnamesische VertragsarbeiterInnen in ...

Debatte um das Grundrecht auf Asyl gesehen und diskutiert. Andere Interpretationsversuche
deuten Rostock-Lichtenhagen als „konformistische Revolte“, in der die „Rebellierenden“
glaubten im Sinne der „Herrschenden“ zu handeln: „Die Aggression, die eigentlich an die
Herrschenden adressiert ist, wird aber gegen Schwächere gerichtet.“ 289 Die geringe Anzahl
der Polizeikräfte vor Ort und deren anfängliche defensive Haltung „suggerierten eine
Passivität, die von der gewaltbereiten Masse aus Bürgerinnen und Bürgern und Neonazis
durchaus als ‚Freifahrtschein‛ interpretiert werden könnte.“ 290
In der konformistischen
Revolte kann sich die Menge der aufgestauten negativen Gefühle nur durch die
stillschweigende Zustimmung der Herrschenden, der Autoritäten, der Eliten oder Politiker
entladen:
„Viele der Aussagen und die wahrgenommene Untätigkeit politischer
Entscheidungsträgerinnen und- träger können als solch ein Einverständnis zur gewaltsamen
Lösung des ‚Ausländerproblems‛ interpretiert worden sein.“ 291 Die Medien fungierten, so
Geelhaar, Marz und Prenzel, in diesem Falle als Transporteur und Legitimationsinstanz
solcher Vorstellungen. Die bei vielen Menschen in Ostdeutschland vorherrschende
Orientierungslosigkeit und Desintegration nach der Wende, die bereits in vorhergehenden
Kapiteln erwähnt wurde, konnte durch die Vorstellung einer gemeinsamen deutschnationalen
Identität kompensiert werden: „‚Kollektiver Narzißmus‛ (Adorno) und
Macht/Ohnmachtsgefühle lassen ein großes Wir aller ‚aufrechten‛ Deutschen zum ersehnten
Fluchtziel aus der irritierenden Komplexität werden.“ 292 Für diese Identitätssuche boten die in
Ostdeutschland und die in diesem Falle in Rostock lebenden Ausländer Anfang der 90er Jahre
eine „geeignete Negativfolie“ und damit ein verfügbares Projektionsobjekt. Bei ihren
Ausführungen stellen Geelhaar, Marz und Prenzel dabei die These auf, dass das Pogrom
Rostock-Lichtenhagen möglicherweise von Teilen der Politik stillschweigend geduldet wurde,
um eine Änderung des Asylrechts voranzutreiben. 293
Für die von den Anschlägen direkt betroffenen Asylanten und Vietnamesen, aber auch für
deren Verwandte, Community-Angehörige sowie für sämtliche ehemalige Vertragsarbeiter
und Ausländer in Rostock, hatten diese Ereignisse traumatischen Charakter. Auf die Frage zu
den persönlichen Empfindungen während und nach den Anschlägen auf das
Sonnenblumenhaus, spiegelt die Antwort von Herrn Vinh L.V. sehr gut die Meinung aller für
289
Geelhaar, Stephan, Ulrike Marz, Thomas Prenzel: Rostock-Lichtenhagen als konformistische Revolte,
in: Thomas Prenzel (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der
rassistischen Gewalt, Rostock 2012, S. 56.
290
Ebenda.
291
Ebenda, S. 58.
292
Lenk, Kurt: Jugendlicher Rechtsextremismus als gesamtdeutsches Phänomen, in: Richard Faber, Hajo
Funke, Gerhard Schoenberner (Hrsg.): Rechtsextremismus: Ideologie und Gewalt, Berlin 1995, S. 91.
293 Vgl.: Geelhaar, S. 56.
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