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NOAM CHOMSKY, NEUE WELTORDNUNGEN

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die
Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame
Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal
der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und
Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den
vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und
deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf
innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten
Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen
Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich
nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen
Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In
den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor
der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von
Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

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dadurch dreiseitige Handelsbeziehungen wiederbeleben, bei denen die Industriegesellschaften Waren<br />

aus den USA beziehen und durch den Export von Rohstoffen aus ihren traditionellen Kolonialgebieten<br />

Dollar verdienen. Dadurch könnte, wurde feinsinnig argumentiert, den ehemaligen Kolonien<br />

zumindest die nominelle politische Selbstbestimmung gewährt werden, allerdings nur selten mehr als<br />

das. 151<br />

Für diese ehemaligen Kolonien planten die globalen Strategien die Unterdrückung<br />

»ultranationalistischer« Tendenzen. Die amerikanischen Interessen galten als durch »radikale und<br />

nationalistische Regimes« bedroht, die den Forderungen der Bevölkerung nach »sofortiger<br />

Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen« und einer Wirtschaftsentwicklung zugunsten<br />

einheimischer Bedürfnisse Tribut zollten. Solche Tendenzen stehen natürlich im Widerspruch zur<br />

notwendigen Herstellung »eines politischen und wirtschaftlichen Klimas, das private Investitionen<br />

begünstigt«, die »angemessene Rückführung von Gewinnen« (NSC 5432/1, 1954) und den »Schutz<br />

unserer Rohstoffe« gewährleistet. So argumentierte damals George Kennan, der 1948 in einem<br />

Geheimbericht an die Regierung davor warnte, ȟber vage ... und irreale Zielsetzungen wie<br />

Menschenrechte, Verbesserung der Lebensbedingungen und Demokratisierung« zu reden. Statt dessen<br />

empfahl er eine strikte Machtpolitik, die sich »von idealistischen Slogans ... über Altruismus und<br />

Weltverbesserung« nicht beeindrucken läßt. Immerhin müssen wir die »Position der Disparität«, den<br />

Unterschied zwischen unserem Reichtum und der Armut der anderen, aufrecht-erhalten.<br />

Ergebnis dieser und ähnlicher Überlegungen war die antidemokratische Stoßrichtung der US-Politik in<br />

der Dritten Welt, wozu auch die terroristische Vernichtung »linker«, d. h. bevölkerungsorientierter<br />

Bewegungen gehörte.<br />

Diese Politik wurde ganz unabhängig von den Strategien, die der Kalte Krieg hervorrief, betrieben und<br />

dürfte auch weiterhin fortbestehen.<br />

Der »unabhängige Nationalismus« wird um so mehr zur Bedrohung für die »nationale Sicherheit« der<br />

Vereinigten Staaten, je mehr die »Stabilität« durch die von den Strategen befürchteten positiven<br />

Auswirkungen unabhängiger Entwicklung in Gefahr gerät. Auch hier sprechen Geheimdokumente<br />

eine eindeutige Sprache. 1954 wies das Außenministerium darauf hin, daß Guatemala sich »zu einer<br />

ernsthaften Bedrohung für die Stabilität von Honduras und El Salvador entwickelt hat. Seine<br />

Agrarreform ist eine wirksame Propagandawaffe; sein umfassendes Sozialprogramm für die Arbeiter<br />

und Bauern, das zum Sieg über die Oberschichten und ausländischen Unternehmen beitragen soll,<br />

besitzt große Anziehungskraft für die Bevölkerung der mittelamerikanischen Nachbarn, wo ähnliche<br />

Bedingungen herrschen.« Will man die »Stabilität« bewahren, muß man die »Oberschichten und<br />

ausländischen Unternehmen« schützen, d. h., das »nationale Interesse« berücksichtigen. Das tat<br />

Washington und machte mit dem demokratischen Experiment in Guatemala kurzen Prozeß.<br />

Auf diese Weise war der Konflikt zwischen der amerikanischen Außenpolitik und<br />

Unabhängigkeitsbestrebungen in der Dritten Welt vorprogrammiert. Ebenso absehbar war, daß die<br />

USA im Konfliktfall zu militärischen Gewaltmaßnahmen und ökonomischer Kriegsführung bereit sein<br />

würden.<br />

Besonders deutlich zeigten sich diese Verwerfungslinien in Lateinamerika, wo es den USA schon<br />

gleich nach dem Krieg gelang, ihre seit langem bestehenden Ziele durchzusetzen, nämlich die<br />

Konkurrenten auszubooten und die Monroe-Doktrin auszuweiten. Robert Lansings diesbezügliche<br />

Argumente fand schon Präsident Wilson »unwiderlegbar«, hielt es aber nicht für »politisch opportun«,<br />

sie an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Lansing meinte, die USA würden in Lateinamerika ihre<br />

eigenen Interessen verfolgen, wobei die Integrität anderer Nationen kein Zweck an sich sein dürfe.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Lateinamerika, so der Historiker Stephen Rabe, die Funktion,<br />

»seine Rohstoffe zu verkaufen« und überschüssiges US-Kapital aufzusaugen. 152<br />

Die Bewohner Lateinamerikas hatten andere Vorstellungen. Sie wollten ihre Wirtschaft entwickeln,<br />

um den Reichtum gerechter verteilen und den Lebensstandard der Massen erhöhen zu können. Das<br />

entsprach natürlich nicht den Plänen Washingtons. In einer Konferenz vom Februar 1945 legten die<br />

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