21.05.2015 Aufrufe

NOAM CHOMSKY, NEUE WELTORDNUNGEN

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die
Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame
Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal
der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und
Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den
vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und
deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf
innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten
Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen
Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich
nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen
Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In
den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor
der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von
Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Als drittes Land in Lateinamerika, das einen traditionell recht gut entwickelten Lebensstandard für die<br />

Bevölkerung besaß, wurde Costa Rica zu neoliberalen Maßnahmen gezwungen. Der Begründer der<br />

costaricanischen Demokratie, Jose Figueres, verurteilte Washingtons »Versuch, unsere sozialen<br />

Institutionen und unsere ganze Wirtschaft den Geschäftsleuten zu überlassen« und das Land in die<br />

Hände ausländischer Konzerne zu geben. Vergebens. 169<br />

Während also die USA in Lateinamerika Staatsterroristen Unterstützung angedeihen ließen, wurden<br />

Kuba, Nicaragua und Costa Rica ins Fadenkreuz genommen, um durch Krieg, Terror und<br />

wirtschaftliche Strangulierung, bzw. im Falle Costa Ricas durch Druck und Subversion,<br />

Wohlverhalten zu erzwingen (was bei Kuba bis jetzt nicht gelungen ist). Das liegt nicht daran, daß<br />

Washington gern Kinder sterben oder Erwachsene gefoltert sieht. Treibendes Motiv ist vielmehr die<br />

prinzipielle Abneigung gegen eine unabhängige, den Interessen der Privatwirtschaft zuwiderlaufende<br />

Entwicklung, die zeigt, daß ein Land der Dritten Welt sich weigert, die ihm zugewiesene »Funktion«<br />

in der globalen Ökonomie zu spielen.<br />

Ein weiteres signifikantes Beispiel für die Prärogativen der Macht ist Brasilien. 170 Dieses Land mit<br />

seinen außergewöhnlichen natürlichen Ressourcen, dieser potentielle »Koloß des Südens« war von<br />

den USA schon lange als »Region unbegrenzter Möglichkeiten« in Augenschein genommen worden.<br />

»Kein Territorium auf der Welt ist für die Ausbeutung besser geeignet als Brasilien«, schwärmte das<br />

Wall Street Journal schon 1924.<br />

1945 nahmen sich die Vereinigten Staaten der Sache an, indem sie die traditionellen europäischen<br />

Rivalen aus dem Weg räumten und den Koloß in ein »Testgebiet für moderne wissenschaftliche<br />

Methoden der industriellen Entwicklung« verwandelten, bemerkt Gerald Haines in seiner hoch<br />

gelobten Monographie. Unter Anleitung durch die USA folgte Brasilien den neoliberalen Doktrinen,<br />

von denen es jedoch zeitweilig abweichen mußte, um katastrophale Folgen für die Gesamtgesellschaft<br />

(Reiche inbegriffen) abzuwehren. Seit den sechziger Jahren unterstützten die USA eine<br />

Militärdiktatur, deren Fundamente schon von der Regierung Kennedy gelegt worden waren. Die<br />

neofaschistischen Generäle konnten die erwünschten wirtschaftlichen Maßnahmen leichter<br />

durchsetzen, zumal sie die Opposition mit Folter, Mord und »Verschwindenlassen« von Personen zum<br />

Stillschweigen gebracht hatten. Brasilien wurde zum vielbestaunten »Wirtschaftswunder« und zum<br />

»Liebling der internationalen Geschäftswelt«, wußte Business Latin America 1972 zu berichten. Auch<br />

der Vorsitzende der US-Bundesbank (der »Fed«), Arthur Burns, pries das »Wunderwerk« der<br />

Folterknechte und ihrer neoliberalen Technokraten, die brav die Vorstellungen der »Chicago Boys«<br />

umsetzten. Diese fanden schon ein Jahr später, in Chile, ein weiteres Betätigungsfeld und verkauften<br />

den Chilenen Brasilien als leuchtendes Beispiel für Wirtschaftsliberalismus.<br />

Allerdings war das Wunder nicht ganz makellos. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung lebten unter<br />

zunehmend elender werdenden Bedingungen, und in Agrargebieten, die sich im Besitz von<br />

Großgrundeigentümern befinden, entdeckten medizinische Forscher eine neue Art von Menschen,<br />

»Pygmäen«, die nur 40 Prozent des Gehirns normal entwickelter Menschen besaßen - eine Folge<br />

langwährender Unterernährung. In den Städten werden Kinder versklavt oder von Sicherheitskräften<br />

ermordet. Pater Barruel von der Universität São Paulo teilte der UN mit, daß »75 Prozent der Leichen<br />

[ermordeter Kinder] innere Verstümmelungen aufweisen, und vielen fehlen die Augen«, auch hier<br />

möglicherweise zu Zwecken der Organtransplantation entfernt.<br />

Der wirtschaftliche Erfolg war allerdings sehr real. US-Investitionen und -Profite boomten, der<br />

brasilianischen Oberschicht ging es gut, und die makroökonomischen Statistiken zeigten schwarze<br />

Zahlen; es war ein »Wirtschaftswunder« im technischen Sinn des Wortes. Bis 1989 übertraf Brasiliens<br />

Wirtschaftswachstum das von Chile, dann kam der Zusammenbruch, und nun war der »Koloß« kein<br />

Triumph der Marktdemokratie mehr, sondern ein Beispiel für das Versagen etatistischer<br />

Wirtschaftspolitik. 171 Daß es selbst in diesen wunderbaren achtziger Jahren der Bevölkerung in den<br />

osteuropäischen Staaten weitaus besser ging als den darbenden Massen in Lateinamerika, steht auf<br />

einem anderen, ungelesen gebliebenen Blatt.<br />

74

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!