21.05.2015 Aufrufe

NOAM CHOMSKY, NEUE WELTORDNUNGEN

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die
Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame
Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal
der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und
Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den
vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und
deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf
innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten
Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen
Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich
nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen
Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In
den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor
der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von
Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

instrumentellen Wert; damals waren die Miskitos »wertvolle Opfer« (um einen gelungenen Ausdruck<br />

von Edward Herman zu verwenden), deren Leiden dem offiziellen Feind angerechnet werden konnten.<br />

Das hat sich jetzt erledigt, und um ihre Hungersnot müssen wir uns jetzt nicht mehr kümmern.<br />

Auch nicht um das Elend der Straßenkinder von Managua, das David Werner beschreibt: »Der<br />

Verkauf von Schuhklebemitteln ist mittlerweile ein lukratives Geschäft«, weil »Ladenbesitzer in den<br />

Armenvierteln gut daran verdienen, die kleinen Flaschen der Kinder nachzufüllen«, damit sie, um (wie<br />

es heißt) den Hunger zu betäuben, Leim schnüffeln können.<br />

Was ihnen vielleicht noch bevorsteht, wurde in einem Dokumentarfilm des kanadischen Fernsehens<br />

enthüllt. In The Body Parts Business (Das Geschäft mit den Körperteilen) ging es um Morde an<br />

Kindern und Armen, um sie ihrer inneren Organe zu berauben. Solche und andere Praktiken, die es in<br />

Lateinamerika schon seit längerem zu geben scheint, sind jüngst von der Regierung El Salvadors<br />

offiziell bestätigt worden. Es gebe dort einen »schwunghaften Handel mit Kindern«, die nicht nur zu<br />

Exportzwecken gekidnappt, sondern auch für pornographische Videos, für Adoption und Prostitution<br />

verwendet würden. In diesem Zusammenhang erinnert Hugh O'Shaughnessy an eine Operation der<br />

salvadorianischen Armee vom Juni 1982, wo die Truppen nahe dem Lempa-Fluß »sich auf die Jagd<br />

nach Kleinkindern begaben«. 50 wurden in Helikopter verladen und nicht wiedergesehen. 167<br />

Jene amerikanischen Liberalen, die den Krieg der Contras guthießen und schließlich den »Sieg des<br />

US-amerikanischen Fair Play« lobten, als die nicaraguanische Bevölkerung das Handtuch warf,<br />

können sich über ihre Erfolge in diesem »romantischen Zeitalter« freuen.<br />

Es gehört zu den Vorrechten der Mächtigen, die Diskussion darüber zu bestimmen, wer Opfer ist und<br />

wer Unterdrücker, wobei die tatsächliche Relation regelmäßig ins Gegenteil verkehrt wird.<br />

Demzufolge müssen die Vietnamesen ihre an uns begangenen Verbrechen wiedergutmachen, und<br />

Nicaragua muß uns beweisen, daß es nicht in Terroraktivitäten verstrickt ist. Immer wieder hören wir<br />

Klagen über die Armen, die die Reichen ausplündern wollen (Dulles), über den kubanischen Führer,<br />

den wir umbringen müssen, weil er »die Vereinigten Staaten auf gewaltsame und unfaire Weise<br />

kritisiert« (McCone), über die Palästinenser, die »terroristische Angriffe gegen den Staat Israel<br />

führen« (so die Terminologie der US-Regierung für die Intifada), wenn sie nach Jahrzehnten »endloser<br />

Erniedrigungen und Brutalitäten« (so der israelische Journalist Danny Rubinstein) den Aufstand<br />

wagen, und über all die anderen Terroristen und Schurken, die sich gegen uns erheben.<br />

Nicaragua ist dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Bereits 1854 zerstörte die US-Kriegsflotte<br />

eine Küstenstadt, um einen angeblich beleidigenden Angriff auf US-Beamte und den Millionär<br />

Cornelius Vanderbilt zu rächen. Da uns das internationale Recht als Gewohnheitsrecht gilt, war es<br />

immer schon unsere Gewohnheit, Nicaragua nach Belieben herumzustoßen oder den Diktator Somoza,<br />

unseren Vasallen, bei seinen Massakern nach Kräften zu unterstützen, bis sich die gepeinigte<br />

Bevölkerung schließlich wehrte. Als dann die sandinistische Regierung sich weigerte, den nötigen<br />

Kniefall zu vollziehen, löste das erheblich Wut aus. Ein US-Kongreßabgeordneter beschrieb die<br />

»Begierde, gegen den Kommunismus [in Nicaragua] loszuschlagen«.<br />

Besonderen Zorn erregten Nicaraguas Friedensbemühungen im Zusammenhang mit dem Contadora-<br />

Plan. Hochrangige Regierungsmitglieder forderten sogar, eine Einladung Daniel Ortegas nach Los<br />

Angeles rückgängig zu machen, um ihn »und die Sandinisten wegen der Annahme der Contadora-<br />

Friedensvorschläge zu bestrafen«, vermeldete die New York Times kommentarlos. Tatsächlich gelang<br />

es der US-Regierung, den Contadora-Plan zu verhindern. Weitere Wutanfälle gab es, als der<br />

Weltgerichtshof die USA wegen der Unterstützung der Contras zu Reparationen verurteilte. Nicaragua<br />

zog den Antrag schließlich zurück, nachdem es sich mit Washington über ein Abkommen zur<br />

Förderung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und der technischen Entwicklung verständigt<br />

hatte. Das Abkommen wurde dann von den USA unterlaufen, und im September 1993 forderte der<br />

Senat mit 94 gegen 4 Stimmen, Nicaragua keine Entwicklungshilfe zu gewähren, wenn für US-<br />

Eigentum, das nach dem Sturz Somozas enteignet worden war, keine ausreichende Entschädigung<br />

gezahlt würde. 168<br />

73

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!