21.05.2015 Aufrufe

NOAM CHOMSKY, NEUE WELTORDNUNGEN

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die
Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame
Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal
der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und
Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den
vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und
deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf
innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten
Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen
Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich
nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen
Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In
den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor
der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von
Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Entwicklungspolitik von dem Modell des »freien Unternehmertums«, das wir sonst anderen<br />

aufzwingen, etwas abweicht. Im Januar 1963 argumentierte Kennedy, jetzt Präsident, ganz ähnlich, als<br />

er den Kongreß ermahnte, »sehr sorgfältig« die Folgen zu bedenken, die uns drohen, wenn Länder<br />

»kommunistisch werden, nur weil wir ihnen ein gewisses Maß an Hilfe verweigerten«. Wir müssen<br />

»darauf achten, daß Entwicklungshilfe unseren Interessen am besten nützt«. 158<br />

Der beste Weg dazu sind indirekte Subventionen der öffentlichen Hand für US-Konzerne, was in den<br />

Vorstandsetagen nicht unbekannt ist. Im Fall Indiens beschrieben Vertreter des »Wirtschaftsrats für<br />

internationale Verständigung« - Orwell läßt grüßen - im Februar 1966 vor dem US-Kongreß ihre<br />

Schwierigkeiten und Erfolge. Indien würde »wahrscheinlich lieber Techniker und Know-how<br />

importieren statt ausländische Konzerne«, bemerkten sie, da das aber nicht möglich sei, »akzeptiert<br />

Indien ausländisches Kapital als notwendiges Übel«.<br />

Als Beispiel für den Gesinnungswandel führten sie Verhandlungen zur Verdoppelung von<br />

Düngemittellieferungen an, die »in Indien dringend benötigt werden«. Diese Düngemittel sollten<br />

Eigentum der Lieferfirmen bleiben, was Indien gar nicht gefiel, weil, so der Einwand, »die<br />

amerikanische Regierung und die Weltbank offensichtlich bestrebt sind, sich das Recht<br />

herauszunehmen, den Rahmen, innerhalb dessen unsere Wirtschaft funktioniert, festzulegen«. Aber<br />

der Widerstand fruchtete nichts, und Indien mußte nachgeben, weil USA und Weltbank »den bei<br />

weitem größten Teil des Devisenhandels kontrollierten, den Indien zur Entwicklung seiner Wirtschaft<br />

und Industrie brauchte«. Die amerikanischen Firmen, die Indien auf Druck der USA ins Land lassen<br />

mußte, bestanden darauf, ihre eigenen Maschinen mitzuliefern, obwohl Indien selbst über<br />

entsprechende Gerätschaften verfügte. Ebenso mußte es Flüssigammoniak importieren, obwohl der<br />

einheimische Rohstoff Naphtha entwicklungsfähig war und zur Unabhängigkeit beigetragen hätte.<br />

Aber die New York Times war von dem Handel begeistert und sah Indien auf dem Weg »vom<br />

Sozialismus zum Pragmatismus«. 159<br />

In den achtziger Jahren unterwarf sich Indien dem Regiment des Weltwährungsfonds und geriet<br />

ebenfalls in den weltweiten Strudel des Katastrophen-Kapitalismus. Die Auswirkungen schilderte<br />

Michel Chossudovsky, Spezialist für Entwicklungspolitik an der Universität von Ottawa, im<br />

führenden indischen Wirtschaftsjournal: »Unter der britischen Kolonialherrschaft hatte die indische<br />

Regierung ein faires Maß an Autonomie, während unter der Vormundschaft von Weltwährungsfonds<br />

und Weltbank der Finanzminister unter Umgehung des Parlaments direkt [am Hauptsitz der Weltbank]<br />

in Washington Bericht erstattet. Die Budgetvorschläge der indischen Regierung sind nichts als<br />

Wiedergaben von mit der Weltbank geschlossenen Übereinkommen. In Schlüsseldokumenten der<br />

Regierung, die direkt aus Washingtoner Büros stammen, finden sich zunehmend amerikanische<br />

stilistische Eigenarten und Schreibweisen. Wichtige Ministerien beschäftigen ehemalige Angestellte<br />

von IWF und Weltbank, die mittlerweile eine Art »Parallelregierung« bilden. Diese kann, ohne sich<br />

von demokratischen Verfahrensweisen hindern zu lassen, die »Armen in Stadt und Land« noch weiter<br />

niederdrücken und zur Bereicherung der Reichen beitragen. Die Landbevölkerung leidet hunger,<br />

während der Export von Lebensmitteln boomt. Bauern werden in den Ruin getrieben, und die<br />

Reallöhne der Arbeiter fallen. Selbst in prosperierenden ländlichen Gebieten sind Hungertode keine<br />

Seltenheit mehr. Die erzwungenen »strukturellen Anpassungsprogramme« führen zur Kürzung von<br />

Sozialhaushalten und treffen, wie indische Ökonomen feststellen, »die Kinder der Armen in der<br />

indischen Gesellschaft besonders hart«.<br />

Aber es gibt auch Nutznießer: die indischen Eliten, ausländische Investoren und Konsumenten. Ein<br />

besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Diamantenindustrie. Sieben von zehn im Westen verkauften<br />

Diamanten werden in Indien geschnitten, zu Niedrigstlöhnen. »Erzielte Preisvorteile reichen wir an<br />

unsere Kunden in Übersee weiter«, bemerkt einer der führenden Diamantenexporteure. Dank der<br />

Wunder des Markts kann Diamantschmuck in den New Yorker Boutiquen billiger angeboten<br />

werden. 160<br />

Daß die Entwicklungshilfe im wesentlichen den Geberländern nützt, wurde noch deutlicher, als der<br />

Westen nach dem Ende des Kalten Kriegs die globale Vorherrschaft antrat. 1991 waren drei Viertel<br />

der britischen Entwicklungshilfe an britische Waren und Dienstleistungen gebunden. Der Economist<br />

69

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!