21.05.2015 Aufrufe

NOAM CHOMSKY, NEUE WELTORDNUNGEN

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die
Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame
Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal
der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und
Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den
vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und
deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf
innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten
Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen
Machtstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich
nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen
Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In
den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor
der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von
Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

»Hauptfaktor bei der negativen Entwicklung der Lohnstruktur in den USA ist der Niedergang der<br />

Gewerkschaften«, sagt Lawrence Katz vom US-Arbeitsministerium. Einer der großen Erfolge der<br />

Regierung Reagan war ihr Kampf gegen die Gewerkschaften: Arbeiter konnten gefeuert werden, wenn<br />

sie für gewerkschaftliche Organisierung eintraten, Streiks wurden gebrochen durch die Einstellung<br />

»dauerhafter Ersatzkräfte« usw. Die Geschäftswelt war entzückt. Eine Titelgeschichte im Wall Street<br />

Journal sprach von einer »begrüßenswerten Entwicklung von grenzüberschreitender Bedeutung«, weil<br />

sinkende Löhne die Wirtschaft wieder konkurrenzfähig machten; hinzu kamen verbesserte<br />

Möglichkeiten zur Produktionsverlagerung ins Ausland. Die Arbeitskosten pro Produktionseinheit<br />

fielen 1992 um 1,5 Prozent, während sie in Japan, Europa, Taiwan und Südkorea stiegen. 1985 lag der<br />

Stundenlohn in den USA höher als in den anderen G-7-Staaten, 1992 darunter. Nur in Großbritannien<br />

war es Frau Thatcher gelungen, die Arbeiter noch härter zu bestrafen. Die Stundenlöhne lagen in<br />

Deutschland um 60 Prozent höher als in den USA, in Italien um 20 Prozent.<br />

Mit der urbanen Krise stieg auch die Zahl der Gefängnisinsassen auf den höchsten Stand in der<br />

industriellen Welt und ließ sogar Rußland und Südafrika hinter sich. Innenstädte und ländliche Gebiete<br />

verfielen, die Infrastruktur brach zusammen, und Armut und Obdachlosigkeit griffen um sich. In der<br />

zweiten Hälfte der achtziger Jahre stieg die Zahl der Hungerleidenden um 50 Prozent auf etwa 30<br />

Millionen Menschen. Zu Beginn des Jahres 1991, noch bevor die Rezession der letzten Jahre sich<br />

auszuwirken begann, waren im reichsten Land der Welt zwölf Millionen Kinder unterernährt. In<br />

Boston mußte das Stadtkrankenhaus sogar eine Klinik für solche Kinder einrichten, die soviel Zulauf<br />

hatte, daß gar nicht alle Fälle betreut werden konnten. Im Winter war es besonders hart, wenn die<br />

Familien entscheiden mußten, ob sie Heizöl oder Lebensmittel einkauften. 174<br />

Im Oktober 1993 brachte das Wall Street Journal einen Bericht über Statistiken der Zensusbehörde,<br />

denen zufolge »die Zahl der Armen in Amerika im vergangenen Jahr um 1,2 Millionen auf 36,9<br />

Millionen angestiegen ist, während die Reichen ihre Börsen füllen konnten«. Das durchschnittliche<br />

Familieneinkommen lag 13 Prozent unter dem Niveau von 1989 und die Armut war so hoch wie<br />

während der heftigen Rezession zu Beginn der achtziger Jahre. Experten erwarten, daß der langfristige<br />

Trend zur Ausweitung der Armut anhält, mit »absinkenden Löhnen, schrumpfender staatlicher<br />

Unterstützung für die Armen und einer Zunahmen von alleinerziehenden Müttern oder Vätern«. Der<br />

Trend zur ungleichen Einkommensverteilung, der sich in den achtziger Jahren beschleunigte, hat sich<br />

bis 1992 fortgesetzt, wobei das obere Fünftel der amerikanischen Haushalte seinen Einkommensanteil<br />

auf 47 Prozent ausweiten konnte. Dagegen sind die Einkommen des unteren Fünftels bei etwas mehr<br />

als 7000 Dollar geblieben, was kaum mehr ist als das Existenzminimum. Eine Untersuchung des<br />

Handelsministeriums zeigte, daß der Prozentsatz von Vollzeitarbeitern mit Mininallöhnen während der<br />

Reagan-Jahre von 12 Prozent auf 18 Prozent gestiegen war. Die Kinderarmut ist zwischen 1973 und<br />

1992 um 47 Prozent gestiegen und betrifft jetzt 20 Prozent der Kinder, eine Zunahme von 12 auf 14<br />

Millionen seit der letzten Zählung vor einem Jahr. Die Armutsgrenze liegt bei einem jährlichen<br />

Einkommen von 11 186 Dollar für eine dreiköpfige Familie. Daß es da zu Gewalt und Verbrechen<br />

kommt, ist klar. Der Staat antwortet darauf mit drakonischen Strafen; die Ursachen gehen ihn nichts<br />

an. 175<br />

Trotz der 1991 einsetzenden wirtschaftlichen Erholung fielen die Löhne für Arbeiter und Angestellte<br />

gleichermaßen, wobei die der Arbeiter drastischer sanken. Lohnzuwächse hatte bestenfalls das oberste<br />

Prozent zu verzeichnen. Überdies war nach 28 Monaten wirtschaftlicher Erholung die Arbeitslosigkeit<br />

noch nicht gesunken, was man in der Nachkriegsära so noch nicht erlebt hatte. Außerdem gab es eine<br />

Zunahme an Teilzeit- und zeitlich befristeter Arbeit, was sich jedoch nicht der freien Wahl der<br />

Arbeitnehmer verdankte, sondern einer wachsenden »Flexibilisierung« des Arbeitsmarkts, die laut der<br />

herrschenden Doktrin gut ist für die wirtschaftliche Gesundheit. Tatsächlich heißt »Flexibilisierung«,<br />

daß die Beschäftigten abends zu Bett gehen, ohne zu wissen, ob sie am nächsten Morgen noch einen<br />

Job haben. 1992 waren fast 28 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze zeitlich befristet, weitere 26<br />

Prozent auf Regierungsebene vor allem bei staatlichen und lokalen Behörden. 1993 gab es 24,4<br />

Millionen Teilzeit- und Zeitarbeiter, 22 Prozent der gesamten Arbeitskräfte, die höchste Quote<br />

überhaupt. Die US-weit größte Firma für Teilzeitarbeit, Manpower, hat 600 000 Beschäftigte auf der<br />

Gehaltsliste, 200 000 mehr als General Motors.<br />

77

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!