18.11.2012 Aufrufe

Heft - ith

Heft - ith

Heft - ith

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Florian Neuner<br />

Seit etwa zehn Jahren lässt sich beobachten, dass eine<br />

neue Aktualität des Gedichts entweder besteht oder herbeigeredet<br />

wird. Es gibt einen gewissen Szene-Appeal von<br />

Lyrikveranstaltungen, der weit über den Slam-Bereich hinausgeht.<br />

Man geniert sich nicht mehr, Gedichte zu schreiben,<br />

wie das vielleicht noch vor 20 Jahren der Fall war. In<br />

Berlin findet heute jeden Tag eine No-Budget-Veranstaltung<br />

statt, bei der Gedichte gelesen werden und deren Publikum<br />

zu 90 % aus Lyrikern besteht oder solchen, die es<br />

noch werden wollen. Wie nehmt ihr das wahr — wenn diese<br />

Beobachtungen überhaupt zutreffen?<br />

Ann Cotten<br />

Wenn das stimmt, dann würde ich das assoziieren mit<br />

einer neuen, sehr ironischen Bürgerlichkeit, die in Mode<br />

gerät: dass man sich auch hübsche Kneipen mit Wohnzimmerdekor<br />

einrichtet, mit Versatzstücken aus anderen<br />

Jahrzehnten.<br />

Monika Rinck<br />

Aber das Gedicht scheint da nicht mit reinzugehören<br />

notwendigerweise. In diesen Wohnzimmerkneipen werden<br />

ja selten Gedichte vorgelesen.<br />

Christian Filips<br />

Mir kommt es vor, als ob es so etwas gibt wie einen simulierten<br />

Lyrikbetrieb und dass das Internet dazu beiträgt, so<br />

eine Simulation herzustellen. Jeder, der marginalisiert ist,<br />

versucht diese Marginalisierung irgendwie aufzuheben.<br />

Gesellschaftlich gesehen ist das Ganze völlig marginal. Es<br />

gibt einzelne, die machen etwas, und weil sie aber nun ein<br />

Bewusstsein vielleicht von ihrer Marginalität haben, bauen<br />

sie so ein Simulacrum auf wie den Lyrikbetrieb.<br />

Monika Rinck<br />

Ich finde auch, den gibt es nicht so richtig.<br />

Christian Filips<br />

Dass man Idolatrie betreibt mit dem Eigenen, das<br />

scheint mir so ein genuin dichterisches Moment zu sein. Aus<br />

der Position der Randständigkeit kann man nicht anders,<br />

als Hyperbeln ins Feld zu führen, sich Sprechpositionen einfach<br />

zuzulegen. Die Frage ist: Warum hofft man nicht mehr<br />

auf den Einzelnen, sondern setzt auf so etwas wie Gruppe,<br />

Betrieb? Mir kommt es so vor, als ob bestimmte Marktstrukturen<br />

einfach nachgeahmt werden.<br />

Monika Rinck<br />

Gut, das ist eine bekloppte, fatale, irgendwie scheppernde<br />

Nachahmung! Schon allein ein Begriff wie Lyrikmarkt<br />

ist ja total grotesk.<br />

Christian Filips<br />

Aber wenn man von einer neuen Aktualität spricht,<br />

dann appelliert das eigentlich an solche Modelle. Vielleicht<br />

kann man’s auch grösser fassen, wenn man jetzt nicht nur<br />

über die Dichtung spricht, sondern auch den akademischen<br />

Betrieb anschaut: diese Zergliederung in Fachbereiche und<br />

diese Bündelung in Kompetenzzentren für jegliches Gebiet,<br />

selbst wenn es überhaupt nicht marktrelevant ist.<br />

Monika Rinck<br />

Einerseits Nischenkompetenz und die Idee, man könnte<br />

eine Nische ausbreiten, bis sie quasi marktförmig wird.<br />

Christian Filips<br />

Gestern hatte ich einen Brief in der Post<br />

von der literaturWERKstatt, 1 wo ich aufgefordert<br />

werde, das «Deutsche Zentrum für<br />

Poesie» zu unterstützen, und zwar, indem ich<br />

eine Absichtserklärung mache, dass ich dieses<br />

Vorhaben gutheisse in meiner gesellschaftlichen<br />

Position, in der ich bin, als Dichter,<br />

Dramaturg, dessen Stimme zählt.<br />

Ann Cotten<br />

Was ist das Deutsche …?<br />

Christian Filips<br />

Das ist jetzt ein Versuch der literatur-<br />

WERKstatt, vielleicht genau dieses Phänomen,<br />

das wir gerade beschreiben, zu insti -<br />

tutionalisieren.<br />

Florian Neuner<br />

Das ist eine Schnapsidee, die schon seit<br />

Jahren herumgeistert.<br />

Ann Cotten<br />

Aber ist das nicht etwas, was auf das Vakuum<br />

reagiert, das nach der Beendigung des<br />

Kalten Krieges entstanden ist? Jetzt gibt es<br />

keine Grossmächte mehr, die sich via CIA<br />

usw. darum kümmern, Poesiegesellschaften<br />

zu gründen und zu fördern. Jetzt muss man<br />

das irgendwie selber machen.<br />

Monika Rinck<br />

So ein Zentrum muss ja ein sich selbst die<br />

ganze Zeit dekonstruierendes Ding sein, also<br />

etwas, was sich gleichzeitig immer de-insti -<br />

tutionalisiert.<br />

Ann Cotten<br />

Machen wir das nicht selber, auf der individuellen<br />

Ebene, die ganze Zeit?<br />

Florian Neuner<br />

Das appelliert doch wahrscheinlich an viel<br />

trivialere Bedürfnisse von Autoren, die jahrzehntelang<br />

prekär gelebt haben und das dann<br />

geil finden, wenigstens in irgendeiner Akademie<br />

herumzusitzen.<br />

Ann Cotten<br />

Weil die Leute immer älter werden, gibt es<br />

zu wenige Plätze in den schon existierenden<br />

Gremien.<br />

Christian Filips<br />

Dann wäre das Bestimmende Angst. Die<br />

Grundstücke sind fast alle verteilt, dann muss<br />

man sie besetzen. Die Poesie will keiner<br />

haben, also muss man sie besetzen.<br />

1 – 1991 gegründetes Literaturhaus<br />

mit Sitz in der Kulturbrauerei<br />

in Berlin-Prenzlauer<br />

Berg.<br />

88

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!