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Heft - ith

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Michaela<br />

Ott<br />

Dieter<br />

Mersch<br />

Mirjam<br />

Schaub<br />

65<br />

Kunst<br />

und<br />

Episteme<br />

Michaela Ott<br />

Artes et Scientia<br />

Mirjam Schaub<br />

Plädoyer<br />

für Kunst als<br />

verkannte<br />

Heuristik der<br />

Philosophie<br />

Dieter Mersch<br />

Platztausch:<br />

Kunst /<br />

Wissenschaft<br />

—<br />

Wissenschaft /<br />

Kunst<br />

Aus der genaueren Betrachtung der<br />

Begriffsgeschichte von Kunst und Wissenschaft<br />

folgt heute die Erkenntnis,<br />

dass seit der lateinischen Antike etwa<br />

eineinhalb Jahrtausende lang das Wissbare<br />

im Sinne des Erlernbaren unter<br />

dem Namen der Artes gefasst wurde,<br />

das mit Philosophie bzw. Theologie ein<br />

historisch sich wandelndes wechselseitiges<br />

Voraussetzungsverhältnis unterhielt.<br />

Selbst diese Zeitspanne erscheint<br />

indes zu eng umrissen, wenn man Wissenskonstruktionen<br />

aus dem 6. Jh. v.<br />

Chr. mit berücksichtigt, die sich in<br />

ihren der Kunst entliehenen Wahrnehmungsmustern<br />

bis ins 17. Jh. behauptet<br />

haben: Die für harmonisch befundenen<br />

musikalischen Proportionsgesetze, wie<br />

sie die pythagoräische Schule erlauscht,<br />

I. Hintergrund<br />

… meiner Überlegungen bilden zwei<br />

Tendenzen der gegenwärtigen — geistes-<br />

und kulturwissenschaftlichen —<br />

Forschungslandschaft: Der Kunstraum<br />

wird zum einen als Ressource für neue<br />

und andere Formen des Wissens entdeckt,<br />

die auch die festgefahrenen Bahnen<br />

der Wissenschaft inspirieren können.<br />

17 Im Zuge von performativen (d. h.<br />

an Versinnlichung und Re-enactment<br />

interessierten), diagrammatischen 18<br />

(d. h. von Schaubildern, Diagrammen,<br />

Skizzen, Karten ausgehenden), und<br />

propädeutischen Überlegungen (zu<br />

Beispielen, Gedanken experimenten) 19<br />

wird zum anderen bekannten sinnlichen<br />

Vermittlungsformen des Denkens<br />

ein noch unausgeloteter Mehrwert für<br />

in alphanumerische Verhältnisse gesetzt<br />

und auf den Kosmos angelegt hat 1 , wurden<br />

trotz späterer empirischer Beobachtungen<br />

bis hin zu Kepler immer<br />

wieder bestätigt. Gerade in ihrer Kritik<br />

an diesen platonisierenden Erkenntnisrastern<br />

und ihrer Hochschätzung von<br />

sinnlicher Erfahrung und Experiment<br />

gelangt die französische Encyclopédie<br />

nicht nur zu einer Gleichbehandlung<br />

von art und science, sondern stellt die<br />

arts mécaniques als die in ihrer Nützlichkeit<br />

relevanteren Wissenskünste<br />

über science und arts libéraux. Die<br />

Geburt jenes Wissens, das sich später<br />

als Naturwissenschaft von den Geisteswissenschaften<br />

und den Künsten<br />

1 – Friedrich Kittler, Musik und Mathematik,<br />

Bd. 1, München 2006, S. 219–282.<br />

1. Gewöhnlich gelten die Wissenschaften als objektiv,<br />

der Wahrheit verpflichtet und in ihrem Vorgehen als rational,<br />

die Künste hingegen als subjektiv, spielerisch und irrational.<br />

Die Wissenschaften treffen Aussagen, die Künste<br />

lassen erscheinen. Dass sich auch die Wissenschaften auf<br />

ästhetische Praktiken stützen, ist vielfach bemerkt worden,<br />

u. a. bereits in den 1970er Jahren durch den Wissenschaftstheoretiker<br />

Paul Feyerabend oder den Semiotiker Umberto<br />

Eco, die beide auf die spezifischen Intuitionen von<br />

Künstlern und Wissenschaftlern hingewiesen haben, sowie<br />

in jüngster Zeit durch die kritischen Interventionen von<br />

Wissenschaftshistorikern wie Hans-Jörg Rheinberger,<br />

Michel Serres oder Bruno Latour, die die Ding- und Experimentalpraktiken<br />

beider miteinander verglichen. Andererseits<br />

hat schon in den 1950er Jahren der amerikanische<br />

Kunstwissenschaftler Kenneth Clark das Gegensatzpaar<br />

Kunst und Wissenschaft dadurch unterlaufen, dass er beide<br />

als zwar unterschiedliche, aber dennoch gleichwertige<br />

Erkenntnismethoden auffasste. Die Künste hätten ihre<br />

die Argumentation zugestanden, über<br />

Illustration und Persuasion hinaus. Die<br />

Steigerung der Nachvollziehbarkeit ist<br />

dann lediglich ein willkommener<br />

Nebeneffekt. Denn im Kern geht es um<br />

das Wagnis, kreative Prozesse mit tentativen<br />

Verfahren zur Wissensgenerierung<br />

zu verbinden — dies unter Verzicht<br />

auf Generalisier- oder Verallge-<br />

17 – Vgl. zu dieser Tendenz exemplarisch aus<br />

jüngster Zeit: Martin Tröndle, Julia Warmers<br />

(Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft.<br />

Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung<br />

von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld<br />

2012; Corina Caduff, Fiona Siegen thaler, Tan<br />

Wälchli (Hg.), Kunst und Künstlerische Forschung<br />

(Zürcher Jahrbuch der Künste 2009,<br />

Bd. 6), Zürich 2010; Elke Bippus (Hg.), Kunst<br />

des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens,<br />

Berlin, Zürich 2009; Dieter Mersch,<br />

Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft,<br />

München 2007.

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