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Intervention 2<br />
Erich Hörl<br />
Ich muss zunächst noch einmal herausstellen,<br />
was du ganz zu Beginn deiner<br />
Ausführungen betont hast: nämlich<br />
dass die ästhetische Frage heute<br />
nicht mehr und nicht weniger ist als<br />
die Frage nach der Gegenwart und<br />
ihrer Ontologie. Eben dies halte ich für<br />
ganz zentral, aber das wird kaum gesehen.<br />
Ich möchte in diesem Zusammenhang<br />
und zur Klärung dessen, worauf<br />
diese ontologische Zeitdiagnostik —<br />
die einzige Zeitdiagnostik, die diesen<br />
Namen auch verdient! — zielen könnte,<br />
unbedingt noch einmal auf Guattari<br />
zurückkommen, der hierzu schon<br />
sehr präzise Beobachtungen gemacht<br />
hat, von denen aus wir heute weiterdenken<br />
können.<br />
In dem schon erwähnten Aufsatz Le<br />
nouveau paradigme esthétique führt er<br />
den Einsatz der allgemeinen Ästhetisierung<br />
genau auf diesen Punkt hin,<br />
spricht er dort doch von einer notwendigen<br />
Neubestimmung bzw. Neubeschreibung<br />
des Seins. Guattari verweist<br />
in diesem Text zunächst auf das wilde<br />
oder archaische, jedenfalls animistische<br />
«proto-ästhetische Paradigma«: Es gibt<br />
hier keine Exteriorität im strengen Sinne,<br />
keine scharfe Trennung von Innen<br />
und Aussen und m<strong>ith</strong>in auch keine<br />
Unterscheidung von Subjekt und<br />
Objekt, es gibt nur einen affektiven<br />
Grund des Werdens, eine ursprünglichen<br />
Emergenzebene, wenn du so<br />
willst, auf der alle kollektiven Faltungen<br />
stattfinden und die Vektoren einer polyvalenten<br />
transindividuellen kollektiven<br />
Subjektivität sich ansiedeln. Dabei ist<br />
diese vielgestaltige, vielstimmige Subjektivität<br />
immer auch im stärksten Sinne<br />
territorialisiert, d. h. sie ist mit der<br />
Zugehörigkeit zu einem Clan verbunden,<br />
hängt an einer strengen kosmologischen<br />
Ordnung etc. Guattari unterliegt<br />
hier, in dieser offenen Anrufung<br />
des Animismus’, ein Stück weit sicherlich<br />
auch einer archaischen Illusion,<br />
wie ich sie vor einigen Jahren ausführlich<br />
beschrieben habe und deren seltsame<br />
Wiederkehr heute in der ubiquitären<br />
Reklamation der Handlungsmacht<br />
nicht-menschlicher Akteure zur<br />
Beschreibung der gegenwärtigen Lage<br />
zu beobachten ist, die ja mitunter, zum<br />
Beispiel bei Latour, ganz offen einen<br />
neuen Animismus reklamiert. 11 Sodann<br />
verweist Guattari auf eine zweite, darauf<br />
folgende Anordnung, auf die kapitalistischeDeterritorialisierungsbewegung,<br />
die zur Ausdifferenzierung der<br />
Wertuniversen und zur Genese bzw.<br />
Aufrichtung der entsprechenden grossen<br />
transzendentalen Referenten führt:<br />
das Gesetz des öffentlichen Raums, das<br />
Kapital des ökonomischen Austauschs,<br />
das Schöne des ästhetischen Reichs, die<br />
Wahrheit logischer Idealität etc. Es<br />
kommt zu einer Segmentarisierung<br />
und Individualisierung von Subjektivität<br />
und zur Geburt entsprechender subjektiver<br />
Vermögen wie Vernunft, Verstand,<br />
Wille, Empfindungsvermögen.<br />
Die diversen Transzendentalien, die wir<br />
kennen — Gott, das Sein, der absolute<br />
Geist, die Energie, der Signifikant —,<br />
sie alle basieren auf dieser geteilten<br />
Subjektivität, die schliesslich im modernen<br />
Subjekt als solchem reterritorialisiert<br />
wird. Es ist im Grund eine geniale<br />
Kurzgeschichte zur Genealogie moderner<br />
Subjektivität, die Guattari hier<br />
abliefert. Guattari beschreibt hier,<br />
wenn du so willst, die subjektgeschichtliche<br />
Lagerung des Kantianismus, der<br />
heute vielen immer noch als unhintergehbarer<br />
Horizont gilt, gerade auch<br />
wenn es um die ästhetische Frage geht.<br />
Aber dann kennt Guattari eben<br />
noch eine dritte Anordnung, die auf<br />
die segmentarisierte und standardisierte<br />
kapitalistische Subjektivität der<br />
Moderne folgt — und genau darauf<br />
kommt es an: Im postmedialen Zeitalter,<br />
wie es Guattari nennt, d. h. bei ihm<br />
immer im postmassenmedialen Zeitalter<br />
neuer Medien und Technologien,<br />
das auf die absolut standardisierte<br />
massenmediale Subjektivitätsproduktion<br />
folgt, tauchen vollkommen andere<br />
Subjektivierungsanordnungen auf,<br />
die das ehemals isolierte Ästhetische<br />
nunmehr priorisieren, dabei zu einer<br />
allgemeinen Ästhetisierung führen: Es<br />
kommt, so die Analyse, zu einer Reevaluierung<br />
des Schöpferischen, in allen<br />
Bereichen und auf allen Ebenen tauchen<br />
schöpferische Prozesse auf, überall<br />
kleine autopoietische Maschinen,<br />
die nie dagewesene und unvorhersehbare<br />
Entitäten hervorbringen,<br />
die Künste verlieren sozusagen ihr<br />
Privileg.<br />
Dieser neue kreative Maschinismus,<br />
und hier komme ich endlich auf<br />
die Frage nach unserer ontologischen<br />
Situation als zentralem Aspekt der<br />
heutigen ästhetischen Frage zurück,<br />
kennt keine Entitäten mehr, die die<br />
verschiedenen segmentarisierten Universen<br />
querten, nein, er wird bei Guattari<br />
seinerseits durch ursprünglich,<br />
wesentlich «transversale Wesen» charakterisiert,<br />
also Wesen, die sich transversal<br />
konstituieren, in der Transversalität<br />
werden, ohne Ende. Ich zitiere<br />
die entscheidende Passage in extenso,<br />
weil sie mir als so wichtig erscheint:<br />
«Sein ist zuallererst Auto-Konsistenz,<br />
Auto-A∞rmation, Existenz für sich,<br />
die spezifische Beziehungen zur Alterität<br />
entfaltet. Das Für-Sich und das<br />
Für-Andere hören auf, ein Privileg<br />
der Menschheit zu sein; sie kristallisieren<br />
sich überall dort, wo maschinische<br />
Interfaces Disparität hervorbringen<br />
und sie basieren umgekehrt darauf.<br />
Die Betonung liegt nicht mehr<br />
auf dem Sein, als allgemeinem ontologischem<br />
Äquivalent, das genauso<br />
wie die anderen Äquivalente (das<br />
Kapital, die Energie, die Information,<br />
der Signifikant) den Prozeß umhüllt,<br />
verschließt und desingularisiert. Die<br />
Betonung liegt nunmehr auf der<br />
Seinsweise, auf der Maschination, die<br />
das Existierende hervorbringt, auf<br />
den generativen Praxen der Heterogenität<br />
und Komplexität.» 12<br />
Guattari beschreibt hier die Durchstreichung<br />
des und den Abschied vom<br />
grossen Sein (d. h. vom Sein mit grossem<br />
«S», «Être»), das er mit den anderen<br />
allgemeinen Äquivalenzen — allesamt<br />
Prinzipien der klassischen kapitalistischen<br />
Subjektivierung — in eine<br />
Reihe stellt, hin zu Seinsweisen, die als<br />
Werdensprozesse zu verstehen sind. Er<br />
spricht hier sogar gegenläufig zum<br />
Sein der traditionellen prozess- bzw.<br />
werdensvergessenen Ontologie vom<br />
«maschinischen Sein».<br />
Mit anderen Worten: Die neuen<br />
technisch-medialen Subjektivierungsmilieus,<br />
um die wir uns heute zu kümmern<br />
und die wir heute auszulegen<br />
haben, wollen wir auch nur halbwegs<br />
verstehen, wo wir uns befinden, bringen<br />
eine gänzlich neue ontologische<br />
Situation, diejenige eines maschinischen<br />
Seins, das nur noch prozessontologisch<br />
und immanenzphilosophisch<br />
zu beschreiben ist. Ich denke,<br />
Guattari, sein prozessontologisches<br />
11 – Erich Hörl, Die heiligen<br />
Kanäle. Über die archaische<br />
Illusion der Kommunikation,<br />
Zürich, Berlin 2005. Guattaris<br />
Animismus haben<br />
Angela Melitopoulos und<br />
Maurizio Lazzarato im<br />
Rahmen ihrer Videoinstallation<br />
Assemblages (2010)<br />
bearbeitet. Vgl. Angela<br />
Melitopoulos, Maurizio<br />
Lazzarato, «Machinic Animism»,<br />
in: Anselm Franke<br />
(Hg.), Animism, Vol. 1, Berlin<br />
2010, S. 97–108. Die von<br />
Franke kuratierte Ausstellung<br />
Animism ist in dieser<br />
Hinsicht insgesamt ein<br />
Symptom.<br />
12 – Guattari 1992, S. 152.<br />
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