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Monika Rinck<br />
Aber Obama …<br />
Ann Cotten<br />
Es gibt Pathos, aber es gibt gleichzeitig die Ironie, die<br />
dieses Pathos wieder aufhebt. Einerseits ist Pathos die<br />
grösste Wirkmacht der Dichtung. Andererseits wird sie<br />
entweder unfreiwillig komisch oder freiwillig ironisch oder<br />
irgendwas, wo sie Pathos auffährt. Es gibt diese gläserne<br />
Mauer des mangelnden Ernstnehmens, dass man das<br />
Gefühl hat, die Realität ist auf einer ganz anderen Schiene<br />
als das, worüber die Dichtung im Stande ist zu sprechen,<br />
ausser im Privaten.<br />
Christian Filips<br />
Ausser im Privaten, aber das gibt es eben gar nicht! Es<br />
gibt aber mich, der ich diesen Konflikt habe und diese<br />
Angst, die sich damit verbindet: Kann ich das, was der<br />
Dichter als Institution war, was mich so geprägt hat, dass<br />
ich begonnen habe, mit dieser Rolle umzugehen, also diese<br />
Rolle auch zu spielen, kann ich das so ausfüllen, dass mir<br />
das einleuchtet? Und das würde ja tatsächlich heissen, diese<br />
Art von Pathos zu mobilisieren und eine Art von Existenzform<br />
damit zu verbinden.<br />
Ann Cotten<br />
Weil privatistisch zu leben und dann grosse Töne zu<br />
spucken, das geht nicht, das ist unglaubwürdig.<br />
Christian Filips<br />
Die Texte allein tragen’s nicht aus.<br />
Florian Neuner<br />
Für Euch alle drei ist die Nachkriegs-Neoavantgarde,<br />
sind modernistische Traditionen wichtig im Gegensatz zur<br />
Mehrheit der Autoren. Nun hat es ja gerade in dieser Zeit<br />
Ansätze gegeben, die Gattungsgrenzen ganz in Frage zu<br />
stellen. Warum hat man heute wieder so ein distinktes Bild,<br />
was das Feld der Lyrik sei und was nicht dazugehört? Passt<br />
ihr euch da an oder habt ihr andere Einsichten, die euch<br />
dazu bringen, die Gattungsgrenzen gar nicht einreissen zu<br />
wollen?<br />
Ann Cotten<br />
Als ich nach Berlin kam und merkte, dass sich alle als<br />
Lyriker bezeichnen, kam mir das wie ein Rückschritt vor.<br />
Aber jetzt merke ich, dass unter Lyrik alles Mögliche fällt,<br />
dass es einfach eine relativ unbedeutende Konvention ist,<br />
ob man jetzt diese Trennnlinie kultiviert oder nicht.<br />
Christian Filips<br />
Diese Unterscheidung, was die Textgattungen betrifft,<br />
ist ja doch eher eine Behauptung. Wenn man faktisch<br />
ansieht, was unter Gedicht firmiert, ist diese Trennung<br />
eigentlich aufgehoben — selbst wenn das zurückfällt, sind<br />
das ja keine Rückfälle in klassische oder romantische Formen<br />
meistens, sondern merkwürdige Durchmischungen<br />
von allem.<br />
Ann Cotten<br />
Wenn man anfängt zu dichten und noch nicht genau<br />
weiss, was das ist, dann hat das schon eine Wirkung, wenn<br />
man sagt: Ich möchte Gedichte schreiben. Dann kann das<br />
Streben nach dieser Gedichtform eine leichte Verharmlosung<br />
bedeuten.<br />
Florian Neuner<br />
Ich weiss aber, was eine Lyrikzeitschrift<br />
druckt und was nicht. Und wenn man dem<br />
entsprechen will, so offen das Feld vielleicht<br />
gehalten wird, dann gibt es auch Ausschlusskriterien<br />
bzw. denke ich, dass es schon auch<br />
auf die Produktion zurückwirkt, wie die<br />
Grenzen gezogen sind.<br />
Christian Filips<br />
Wir alle drei, die wir am Tisch sitzen, gelten<br />
schon eher als Dichter, und was die Textgattungen<br />
betrifft, ist es aber doch so, dass es<br />
extreme Mischformen gibt. Woran liegt das?<br />
Mir kommt es so vor, wenn man irgendwann<br />
behauptet, das ist die Dichterrolle, dann ist<br />
das erst mal eine Bastion, um zu sagen: Das<br />
Hermetische hat recht oder es darf sein. Die<br />
Komplexität ist nicht weiter zu legitimieren,<br />
als ob man sich hinter einer gewissen Tradition<br />
erst mal verschanzen darf, die einem<br />
überhaupt ermöglicht zu agieren.<br />
Florian Neuner<br />
Nach dem Motto: Hölderlin war auch<br />
schon unverständlich …<br />
Christian Filips<br />
Ganz am Anfang, das ist doch der allererste<br />
Impuls, dass man sagt: Ich mache etwas,<br />
das ich nicht weiter legitimieren muss als<br />
dadurch, dass ich Dichter bin.<br />
Monika Rinck<br />
Und meine Empfindsamkeit zwingt mich<br />
auch dazu.<br />
Christian Filips<br />
Meine Empfindsamkeit zwingt mich dazu<br />
und sie hat recht, ich muss ihr nachgehen. Sie<br />
hat sogar wahrheitskategorischen Wert.<br />
Monika Rinck<br />
Und andere Leute müssen mich dafür<br />
bezahlen.<br />
Christian Filips<br />
Bewundern!<br />
Monika Rinck<br />
Lieben!<br />
Florian Neuner<br />
Was wären dann Kriterien? Ist es die<br />
gebundene Sprache? Oder ist Lyrik wirklich<br />
nur ein Dach, unter dem vieles existiert und<br />
wo ich mich da und dort nach Belieben andocken<br />
kann?<br />
Ann Cotten<br />
Die Modelle ändern sich bei jedem Projekt<br />
ein bisschen. Man kann z. B. das Modell<br />
haben, das mir im Moment als Ideal vorschwebt,<br />
ein arges Leben zu führen und dann<br />
eine Form zu finden, wo ich in einem Text das<br />
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