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Heft - ith

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Erich<br />

Hörl<br />

Jörg<br />

Huber<br />

19<br />

Technoökologie<br />

und<br />

Ästhetik<br />

Intervention 3<br />

Erich Hörl<br />

Mir gefällt der Gedanke, dass die Perspektive<br />

und der Ertrag unseres Austauschs<br />

in einer wenigstens vorläufigen<br />

und offenen Agenda der Ästhetik<br />

bestehen könnte, die unterwegs zu<br />

einer ontologischen Gegenwartsbeschreibung<br />

wäre und gleichzeitig zu<br />

deren Genealogie, die also mit der<br />

ontologischen Neubeschreibung der<br />

Gegenwart immer auch die Genealogie<br />

dieser Beschreibungsweise selbst,<br />

ihrer Begriffspolitik etc. mit im Blick<br />

haben würde. Eine gewaltige neue<br />

Aufgabenbeschreibung für eine zeitgenössische<br />

Ästhetik.<br />

Hier rühren wir meiner Meinung<br />

nach an ein ganz entscheidendes<br />

Moment unseres heutigen Theoriebegehrens,<br />

das mit dem neuen ästhetischen<br />

Paradigma ganz explizit hervortritt:<br />

zu beschreiben und zugleich dieses<br />

Beschreiben selbst noch einmal in<br />

seiner ganzen Gewordenheit als solches<br />

denken zu wollen. Diese seltsame<br />

Doppelung, die uns ins Ungedachte<br />

unserer eigenen geschichtlichen Situation<br />

hineinführt und uns zeigt, wie wir<br />

möglicherweise noch in unseren avanciertesten<br />

Theorieprogrammen und<br />

Denkversuchen einem bestimmten<br />

Wahrheitsregime unterstehen, uns<br />

zeigt, dass für uns etwas radikal aufbricht,<br />

uns zur Reformulierung zwingt<br />

und uns dabei immer auch gerade in<br />

diesem Bruch, in diesem Riss, in diesem<br />

Aufbrechen irgendwie auch einen<br />

neuen Stil, neue Begriffe, ein neues<br />

Bild des Denkens, ein neues Bild des<br />

Seins etc. zuspielt und aufnötigt, etwas,<br />

dem wir uns würdig zu erweisen haben,<br />

vielleicht gerade da, wo wir am wenigsten<br />

damit rechnen — eben diese in sich<br />

verschlungene Bewegung kostet mich<br />

manchmal schier den Kopf, sie a∞ziert<br />

den Ort des eigenen Sprechens, führt<br />

vor, dass wir mehr, als wir wahrhaben<br />

wollen, eingefaltet sind in die Immanenzebene,<br />

auf der die Begriffe eines<br />

Zeitalters zirkulieren und auf der unsere<br />

jeweiligen Begriffsschöpfungen<br />

stattfinden und in die wir uns mit<br />

unseren Begriffsschöpfungen einspeisen<br />

— eine Ebene, die von Deleuze und<br />

Guattari nicht zufällig auch Konsistenzebene<br />

genannt wird, weil es hier konsistiert,<br />

und zwar immer auch hinter<br />

unseren Rücken, über unseren Köpfen.<br />

Und neue Konsistenzen herzustellen,<br />

darum geht es. Heute dominiert, wie<br />

ich schon angedeutet habe, die neokybernetische<br />

Hypothese in weiten Tei-<br />

len die epochale Immanenzebene:<br />

Emergenz, Kontingenz, Rekursion<br />

(und vielleicht sogar: das Ritornell)<br />

und Wiederholung, Autopoiesis, Selbstorganisation,<br />

Netzwerk usw., all dies<br />

sind Begriffe und Figuren der neokybernetischen<br />

Rationalität, und sie sind<br />

auch Teil des kybernetischen Imaginären,<br />

das sich im Gleichschritt mit der<br />

Kybernetisierung der Lebensform und<br />

dem Durchmarsch der Technowissenschaften<br />

über uns legt und die epochale<br />

Konsistenzebene durchzieht. Die allgemeine<br />

Ökologie, von der ich vorhin<br />

sprach, mag eine Möglichkeit sein, hier<br />

zumindest eine Zeit lang ein wenig für<br />

Unruhe zu sorgen, eine neue Form der<br />

Konsistenz hervorzubringen, die den<br />

neokybernetischen Einklang stört,<br />

wenngleich auch sie selbst mindestens<br />

mit einem Bein in der Neokybernetik<br />

steht, wissens- und mediengeschichtlich<br />

tief mit der Kybernetisierung verbunden<br />

ist. Die Frage ist jetzt, wie sich<br />

die neue ästhetische Agenda nun dazu<br />

verhält?<br />

Angewandt auf das, was du<br />

«Geschehenstheorie» genannt hast<br />

und der ja ein ganz zentraler Platz in<br />

der ästhetischen Agenda zukommt,<br />

müssen wir sogleich fragen: Wo kommt<br />

denn die zeitgenössische Ereignis- und<br />

Geschehensfaszination eigentlich<br />

genau her? Wovon wird das freigesetzt?<br />

Wovon zeugt, um es salopp zu formulieren,<br />

die gute Presse, die das Werden<br />

und das Ereignis heute haben? Warum<br />

wollen wir uns «dessen würdig erweisen,<br />

was uns zustößt», 18 wie Deleuze es<br />

so grossartig als zentrale Losung jeder<br />

Geschehenstheorie formulierte? Woher<br />

stammt die, ja, Notwendigkeit und Verpflichtung,<br />

in Begriffen des Ereignisses<br />

und Geschehens zu denken, dem Ereignis<br />

zu antworten, es zu wollen und es zu<br />

bejahen, Söhne und Töchter des Ereignisses<br />

zu werden und nicht mehr des<br />

Werks, die Haltung, die mir zentral zu<br />

sein scheint für das, was Du, was ihr,<br />

Ästhetik der Existenz und Ästhetik als<br />

Ethik nennt? All das sind Fragen, die<br />

bislang viel zu wenig bearbeitet worden<br />

sind — sie gehören ohne Zweifel auch<br />

ganz zentral auf die ästhetische<br />

Agenda.<br />

Ich denke, Fragen dieses Typs markieren<br />

jedenfalls im Prinzip genau den<br />

Ort der Kritik heute: eine radikale<br />

Neubeschreibung des Seins zu liefern,<br />

deren Notwendigkeit sowie die entscheidenden<br />

Angriffspunkte zu erkennen<br />

und zugleich auch von deren eigener<br />

Geschichtlichkeit und Genealogie<br />

zu zeugen oder diese jedenfalls auch<br />

mit zu befragen. Ich denke, um hier<br />

etwas präziser zu werden, dass genau<br />

dies der kritische Ort und Einsatz<br />

eines Denkens der Medien und Techniken<br />

heute ist, dessen eminent kritische<br />

Aufgabe, und dass umgekehrt kritische<br />

Theorie heute zuerst Medien-<br />

und Techniktheorie zu sein hat, von<br />

den technisch-medialen Grundlagen<br />

herzukommen hat, von der technologischen<br />

Bedingung. Viele mögen aus<br />

guten Gründen und schon lange das<br />

Wort Kritik nicht, einer meiner Lehrer,<br />

Friedrich Kittler, hat es praktisch vollkommen<br />

verworfen, in seiner Gegenwart<br />

durfte es nicht ausgesprochen<br />

werden — doch die Zeiten ändern sich,<br />

ein gewisse antitechnische Einstellung,<br />

wie sie die Frankfurter Schule<br />

verkörpert hat und dies zum Teil bis<br />

heute noch tut, sie hat nicht mehr die<br />

Definitionsmacht darüber, was Kritik<br />

heisst. Wir müssen die Kritik heute<br />

neu ins Spiel bringen — vor allem die<br />

Medienwissenschaft muss dies tun<br />

und es als ihre Aufgabe begreifen.<br />

Um nun noch einmal auf die Frage<br />

der Geschehenstheorie zurückzukommen:<br />

Wie gehen das Hervortreten der<br />

Ereignis- bzw. Geschehenstheorie, die<br />

affektive Wende und die technischmediale<br />

Entwicklung seit mindestens<br />

einem halben Jahrhundert zusammen?<br />

Ist dieses Zusammentreffen<br />

schon genau beschrieben und wissen<br />

wir, was es für uns bedeutet? Ich denke<br />

nicht. Das ist für mich eine ganz<br />

zentrale Frage, um die sich eine Agenda<br />

der Ästhetik zu kümmern oder die<br />

sie jedenfalls mitzudenken hat — sie<br />

muss ja zuallererst auch die Verwandlung<br />

verstehen, in der sich der Sinn des<br />

Ästhetischen selbst befindet und damit<br />

die Drift, in der sie ihrerseits steht! Mit<br />

dieser Frage begeben wir uns mitten in<br />

die zentralen sinngeschichtlichen Verschiebungen<br />

seit der zweiten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts hinein, in deren<br />

technologische Grundlagen und<br />

schliesslich auch in die vielleicht<br />

avancierteste Theoriebildung heute,<br />

die tief in diese Verfasstheit eingelassen<br />

ist, zugleich deren Untersuchung<br />

und mächtigster Ausdruck ist. Hier<br />

hast du genau die Doppelung und den<br />

Kurzschluss von Neubeschreibung<br />

und deren eigener Genealogie. Nehmen<br />

wir in aller Kürze Brian Massumi<br />

als Beispiel, dessen begri±iche Kraft ich<br />

mehr und mehr bewundere. Massumis<br />

Ereignisdenken — ich füge rasch hinzu:<br />

sein vor kurzem erschienenes Buch<br />

18 – Gilles Deleuze, Logik des<br />

Sinns (1969), Frankfurt a. M.<br />

1993, S. 187.

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