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abkoppelt und zunehmend für die Wissenschaften<br />
als solche zu stehen beansprucht,<br />
ist ein neuzeitlicher Vorgang,<br />
der im 17. Jh. zunächst in London und<br />
in Paris institutionalisiert wird und in<br />
der Gründung der beiden Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademien der Künste<br />
und der Wissenschaften Ende des Jahrhunderts<br />
sein deutsches Gegenstück<br />
findet. Trotz der damit einziehenden<br />
neuen Insistenz auf induktiven Verfahren<br />
und Laboratoriumsforschung korrigieren<br />
die Naturwissenschaften noch<br />
im 19. Jh., wie Lorraine Daston 2 aufzeigt,<br />
die Unregelmässigkeiten von<br />
unterm Mikroskop beobachteten Phänomenen<br />
zum Zweck der Bestätigung<br />
von Idealstrukturen nach. Erst mit der<br />
Einführung der Fotografie und mit<br />
eigene Weise, Wissen zu generieren — ein sinnliches Wissen,<br />
das nicht auf wissenschaftliche Kenntnisse zurückgeführt<br />
werden könne, ihnen dennoch in Aussagekraft und<br />
Relevanz in nichts nachstehe. Ähnliches hatten zuvor schon<br />
längst die grossen philosophischen Ästhetiken von Georg<br />
Wilhelm Friedrich Hegel, Martin Heidegger und Theodor<br />
W. Adorno je auf ihre Weise behauptet: Kunst partizipiere<br />
am Wahrheitsgeschehen, sei eine andere Form, Zugang zur<br />
Welt zu gewinnen und darin der Philosophie verwandt. Für<br />
Hegel bedeutete beispielsweise das künstlerische Werk eine<br />
Verkörperung der Idee im Sinnlichen, für Heidegger waren<br />
die Künstler Stifter und Gründer, die wie Dichter verführen,<br />
um neue Figuren zur Beschreibung des Wirklichen<br />
einzuführen, und für Adorno bildete die Kunst eine Weise<br />
der Kritik an der Unwahrheit der Zeit, die im Namen der<br />
Freiheit Widerstand gegen die «Liquidation» des Subjekts<br />
übe. Seit zwei, drei Jahrzehnten scheinen zwar solche<br />
emphatischen Einschätzungen im Zeichen einer postmodernen<br />
Entgrenzung der Künste obsolet, dennoch haben,<br />
meinerbarkeitsversprechen. Nur in<br />
dem Masse, indem künstlerische Forschung<br />
(artistic research) anders als<br />
herkömmliche Wissenschaft funktioniert,<br />
nur in dem Masse, indem sinnliche<br />
Vergegenwärtigung etwas anderes<br />
als das diskursiv Vereinbarte zeigt, ist es<br />
als kritischer und produktiver Impulsgeber<br />
von Interesse. 20<br />
II. Vorhaben<br />
Mein eigenes Interesse zielt dabei<br />
jedoch weder auf die vom eigenen Körper<br />
ge- und entdeckte Dramatisierung<br />
noch auf die Theaterbühne als «Labor»<br />
philosophischer Ideen, wie es sich<br />
etwa in Eva Maria Gauß’ und Petra<br />
Lums «performativen Sinnerfassungsmassnahmen»<br />
21 zeigt. Vielmehr fasse<br />
deren Dokumentation der Regelmässigkeit<br />
von Abweichungen setzt sich<br />
die Einsicht und Akzeptanz des Unterschieds<br />
zwischen Idealform und je<br />
besonderem Einzelphänomen durch.<br />
Für die Gegenwart, so mein Eindruck,<br />
sind erneute Annäherungen zwischen<br />
naturwissenschaftlichen und künstlerischen<br />
Theoriebildungen und Verfahren<br />
erkennbar: Astronomische Spekulationen<br />
zu «dunkler Materie» oder «dunkler<br />
Energie» entlehnen ihre Termini<br />
dem Hollywood Sciencefictionfilm.<br />
Den Aufbau molekularbiologischer<br />
Versuchsanordnungen beschreibt Soraya<br />
de Chadarevian kunstnah als Zusammenspiel<br />
kognitiver, politischer und<br />
persönlicher Faktoren und als «pragmatische<br />
Bricolage» 3 dieser Elemente.<br />
18 – Vgl. hierzu: Dieter Mersch, «Visuelle Argumente.<br />
Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften»,<br />
in: Sabine Maasen, Torsten<br />
Mayerhauser, Cornelia Renggli (Hg.), Bilder<br />
als Diskurse, Bilddiskurse, Weilerswist 2006,<br />
S. 95–116; Sybille Krämer, «Operative<br />
Bildlichkeit. Von der Grammatologie zu einer<br />
‹Diagrammatologie›? Reflexionen über<br />
erkennendes Sehen», in: Dieter Mersch,<br />
Martina Heßler (Hg.), Logik des Bildlichen.<br />
Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld<br />
2009, S. 94–123; diess., «Notationen,<br />
Schemata, Diagramme: Über ‹Räumlichkeit›<br />
als Darstellungsprinzip. Sechs kommentierte<br />
Thesen», in: Gabriele Brandstetter, Franck<br />
Hofmann, Kirsten Maar (Hg.), Notationen und<br />
choreographisches Denken, Freiburg 2010,<br />
S. 27–45.<br />
19 – Vgl. hierzu Mirjam Schaub, Das Singuläre<br />
und das Exemplarische. Zur Logik und Praxis<br />
der Beispiele in Philosophie und Ästhetik,<br />
Berlin, Zürich 2010.<br />
20 – Von den oben genannten Tendenzen, die<br />
jeweils von singulären Prozessen ihren Ausgang<br />
nehmen, zeugen besonders an Kunst-<br />
Die zeitgenössische Einsicht, dass<br />
wir nur die Spitze des Eisbergs des<br />
Wissbaren kennen, da sich seine Mikro-<br />
oder Makro-Dimensionen unserer<br />
Beobachtung und Überprüfbarkeit<br />
entziehen, lässt Mathematiker wie<br />
Jochen Brüning oder Wissenschaftstheoretiker<br />
wie Hans-Jörg Rheinberger<br />
davon sprechen, dass es Physik und<br />
Biologie heute nicht mehr mit Referenzsystemen<br />
und Phänomenen, son-<br />
2 – Lorraine Daston, «Die Kultur wissenschaftlicher<br />
Objektivität», in: Science + Fiction.<br />
Zwischen Nanowelt und globaler Kultur, hrsg.<br />
v. Stefan Iglhaut, Berlin 2003, S. 45–64.<br />
3 – Soraya de Chadarevian, «Architektur der<br />
Proteine. Strukturforschung am Laboratory<br />
of Molecular Biology in Cambridge», in:<br />
Michael Hagner u. a. (Hg.), Objekte, Differenzen<br />
und Konjunkturen, Berlin 1994, S. 181–200.<br />
seit Christopher Frayling — zunächst im Rahmen von<br />
Design-Theorie — die Zauberformel von der «künstlerischen<br />
Recherche» ausrief, viele Künstler damit begonnen,<br />
auf sehr viel bescheidenerem Wege ihre eigenen Forschungsfelder<br />
zu eröffnen, die sie mit ihren jeweiligen<br />
Kompetenzen und Methoden zu bearbeiten suchen. Nicht<br />
nur bedienen sie sich dabei klassischer wissenschaftlicher<br />
Verfahrensweisen wie der Quellenrecherche, dem Experiment<br />
oder der Erstellung spekulativer Klassifikationen und<br />
Taxonomien, vielmehr dringen sie auch in die Wissenschaften<br />
selber ein und stellen deren Ästhetiken wie die bildgebenden<br />
Verfahren oder technischen Visualisierungen unter<br />
systematische Reflexion. Se<strong>ith</strong>er untersteht der immer<br />
noch verbreitete Glaube am Antagonismus zwischen Künsten<br />
und Wissenschaften einem permanenten, destabilisierenden<br />
Platztausch, der nicht nur Auswirkungen auf die<br />
künstlerischen Praktiken und deren Beziehung zur Episteme<br />
hat, sondern auch auf die wissenschaftliche<br />
Theoriebildung.<br />
hochschulen praktizierte Bemühungen um<br />
artistic research, ausserdem Projekte wie<br />
«soundcheck philosophie» (Universität Halle-<br />
Wittenberg in Kooperation mit der Volkswagen<br />
Stiftung) oder «Philosophy on Stage»<br />
(Universität Wien). Einen Einblick in die performativen<br />
Arbeitsweisen von Arno Böhler<br />
und Susanne Valerie Granzer geben: «Pirouette:<br />
‹Being a good girl›» (von Susanne V.<br />
Granzer) oder auch «Aisthetische Performanz:<br />
Das Phänomen des Berührens»<br />
(von Arno Böhler), beide in: Kogge, Lagaay,<br />
Lauer, Mahrenholz, Schaub, Schiffers (Hg.),<br />
Drehmomente. Festschrift für Sybille<br />
Krämer, Berlin 2011 zit. nach http://www.<br />
geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/drehmomente/,<br />
letzter Aufruf vom 13. Februar 2012.<br />
21 – Vgl. http://www.soundcheck-philosophie.de/<br />
netzwerk.html und http://www.plum-productions.de/info.html,<br />
letzter Aufruf vom 13. Februar<br />
2012.<br />
22 – Als «Kunstraum» sei hier schlicht die<br />
Gesamtheit aus künstlerischen Werkformen,<br />
ihrer Ausstellungspraxis, Diskussion und<br />
Kritik umrissen.<br />
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