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Heft - ith

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2 – Jean Baudrillard,<br />

Kool Killer, Berlin<br />

1978, S. 39.<br />

Das simulative Wort erhebt keinen<br />

Anspruch, «wirkliches» Geschehen zu<br />

erfassen. Es zeigt vielmehr auf, dass den<br />

tatsächlichen Vorgängen des realen<br />

Lebens auf bewährten sprachlichen<br />

Wegen nicht mehr beizukommen ist, wird<br />

doch immer deutlicher, dass das Paradigma<br />

der objektiven Realität hinter einem<br />

anderen, vermittelten Wahrnehmungsmuster<br />

zurücktritt & sich nicht mehr im<br />

Subjekt / Objekt-Verhältnis abbilden lässt.<br />

Das muss als Grund für die Verunsicherung<br />

gegenüber einer scheinbar zersplitterten<br />

Welt gelten (diesem «Stadium totaler<br />

Relativität» 2 ), die sich ebenso scheinbar<br />

jedem Verständnis entzieht, zurücktritt<br />

& dem Verschwinden ausgesetzt ist. In<br />

Wahrheit handelt es sich dabei um ein<br />

Wahrnehmungsproblem, an dem die lineare<br />

Schriftvermittlung ihren Anteil hat.<br />

Die Phänomene beginnen sich aufzulösen<br />

& in Einzelteile & Pixel zu zerfallen. Sie<br />

erscheinen als demontiert, als nicht<br />

zusammenhängend & widersinnig & das,<br />

weil sich der Blick zunehmend auf ihre<br />

Reproduzierbarkeit richtet (entsprechend<br />

der Benjamin’schen technischen Reproduzierbarkeit<br />

der Kunst). Der Versuch, diesem<br />

Wahrnehmungsbild beschreibend,<br />

auf glättende & geglättete Weise gegenüberzutreten,<br />

ist zum Scheitern verurteilt.<br />

Die erzählende Sprache bleibt stets vis-àvis<br />

dessen, was sie darzustellen versucht,<br />

statt Teil des Dargestellten zu werden. Das<br />

Wort ist darauf angewiesen, dass es an die<br />

Stelle dessen tritt, was es bezeichnet.<br />

Der simulative Effekt darf nicht mit<br />

Scheinbarkeit verwechselt werden, die<br />

vortäuscht, dass etwas so ist, wie es<br />

scheint. Er beginnt, wenn das Simulierte<br />

anstelle des Realen tritt. Indem etwa ein<br />

literarisches Produkt vorgibt, «Literatur»<br />

zu sein, verfällt es der simulativen Dimension,<br />

beruft es sich doch darauf, die interpretatorischen<br />

Kategorien von Literatur<br />

zu erfüllen, auch wenn es Dissimulation<br />

bleibt (indem es literarische Ansprüche<br />

vortäuscht, die es scheinbar erfüllt). Realität<br />

lässt sich nicht simulieren, wenn vom<br />

Realen nur noch Konturen geblieben<br />

sind, die andeuten, wo die Schnittstellen<br />

von begri±ichen Modellen verlaufen.<br />

Wenn Wahres, Wirkliches der «unfassbaren<br />

Torsion des Sinns» 3 unterliegt, verschwindet<br />

es im Widersprüchlichen. Niemand,<br />

kein Leser, kein Schreiber, kann<br />

sich heute dem Umstand entziehen, dass<br />

er in einem Simulationsgerät sitzt, das ihn<br />

mit scheinbar realen Situationen konfrontiert,<br />

die zum Test seiner Reaktionen auf<br />

der öffentlichen, medialen Bühne präsentiert<br />

werden. Jeder Film, jeder Bericht,<br />

jede Nachricht & jeder politische Diskurs<br />

entspricht einem Simulationsmodell, an<br />

dem sich der zum Publikum degradierte<br />

Einzelne innerlich (ob explizit oder nicht)<br />

reaktiv orientiert. Darauf beruht die emotionale<br />

Wirkung von Sensations-, Katastrophen-<br />

& Bedrohungsszenarien, deren<br />

Verstörungen umso tiefgreifender ausfallen,<br />

je virtueller & unwahrscheinlicher sie<br />

sind. Der simulative Effekt nimmt der<br />

Wahrnehmung das distanzierende Kalkül,<br />

indem er das reflektierende Element<br />

der Vorstellung unterdrückt, dass etwa<br />

Fernsehbilder virtuelle Projektionen auf<br />

dem Bildschirm sind. Wenn das Simulative<br />

die Stelle des Realen einnimmt, erweitert<br />

es das Spektrum der individuellen<br />

Reaktionen, die als unmittelbar empfunden<br />

betrachtet werden & es auch sind. Die<br />

simulierte Modellanordnung mischt sich<br />

mit der physiologischen Assoziation. Was<br />

im Flugsimulator die gefahrlose Handhabe<br />

gefährlicher Situationen ermöglicht,<br />

indem sie den Piloten mit tatsächlichen<br />

Grenzfällen konfrontiert, die dem Training<br />

seines Verhaltens dienen (der sich im<br />

simulativen Sog so verhält, als sässe er tatsächlich<br />

im Flugzeug), führt beim isolierten<br />

Zuschauer zu massstabsloser Verwirrung,<br />

die ihm Hilflosigkeit suggeriert,<br />

weil sie ihm die praktische Rückmeldung<br />

entzieht. Er reagiert blind.<br />

3 – Ebd., S. 46.<br />

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