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Ludger<br />
Schwarte<br />
141<br />
Vernunft<br />
für alle !<br />
praemonstret quid sit eligendum» Descartes<br />
AT X, S. 361; Gäbe 1992, S. 5.)<br />
31 – «Regula I: Es muß das Ziel der wissenschaftlichen<br />
Studien sein, die Erkenntniskraft<br />
darauf auszurichten, daß sie über alles, was<br />
vorkommt, unerschütterliche und wahre<br />
Urteile herausbringt.» Die menschliche Weis -<br />
heit sei mit Bezug auf alle Wissensgegenstände<br />
dieselbe, ebenso wie das Sonnenlicht<br />
[Descartes AT X, S. 360]. Descartes identifiziert<br />
hier die Bona Mens (d. h. den Bon Sens)<br />
mit der Universalia Sapientia. Das Nachdenken<br />
über diese Weisheit nennt er «cogitare».<br />
Das Nachdenken ist also eine Reflexion<br />
des Denkens über sich selbst.<br />
Das politisch Brisante des cartesianischen Rationalismus<br />
besteht vor allem im Universalismus des Bon Sens,<br />
d. h. in dem allen Menschen unterschiedslos zugesprochenen<br />
kritischen Sinnesurteil. Mit dem Bon Sens ist folglich<br />
mehr gemeint als eine blosse Vernunftbegabung oder eine<br />
Sozialität der Sinne. Die Vernunft, der Bon Sens, produziert<br />
die Gleichheit des Menschen: Vernunft ist das Denkurteil,<br />
das alle immer schon vollziehen und das es, im Hinblick auf<br />
eine universelle menschliche Weisheit, zu analysieren und<br />
zu perfektionieren gilt.<br />
Seine Methodenschrift offeriert ein Experiment, um die<br />
Vernunft besser, gewisser, freier auszuüben.<br />
Erst, wenn alle Menschen sich ihres Denkvermögens<br />
bewusst seien, würden sie nicht länger in Wissensdingen<br />
durch falsche Autoritäten an der Nase herumgeführt. 22<br />
Niemand sei so stumpfsinnig, dass er evidente Wahrheiten<br />
nicht einsehen könne, wohingegen die Geistreichen oft<br />
blind gegenüber dem seien, was jeder Bauer wisse. 23<br />
Die Leitung der Urteilskraft durch die Methode, die<br />
Descartes vorschlägt, ist später gründlich missverstanden<br />
worden. Für Descartes ist die Methode kein Wahrheitsgarant<br />
und kein System fixer Regeln, sondern nur eine Möglichkeit<br />
der Problemlösung, die sich auf die Einsichtsfähigkeit<br />
stützt. Die cartesische Methode ist nur ein Modell, aber<br />
keine Vorschrift. 24 An einer Stelle heisst es entsprechend:<br />
«Nur weil ich, weil mir mein Werk genügend gefallen hat,<br />
Ihnen hier das Modell zeige, will ich darum niemandem<br />
raten, es nachzuahmen.» 25<br />
Seine Methode orientiert sich vor allem an einem Gegenwartsbezug,<br />
wie er nicht in ausgedehnten Reisen oder intensiven<br />
historischen Studien 26 , sondern in täglichen Geschäften<br />
und Handwerken ausgebildet wird: hier muss überlegt<br />
und entschieden werden; die Konsequenz folgt auf dem<br />
Fusse. Diese Urteile werden desto sicherer, je klarer ich sehe,<br />
je besser ich mich auskenne und je schärfer ich meine<br />
Gedanken zu formulieren weiss. Deshalb lobt Descartes das<br />
Unverbildete, Erfahrungsgesättigte und unterstellt einen<br />
Zusammenhang von klaren Gedanken und kräftiger Sprache,<br />
insofern sich Geistvolles und Gewitztheit auch in der<br />
Eloquenz und der Dichtung nicht erlernen lassen. 27 Im<br />
Gegensatz dazu seien spitzfindige Logeleien konsequenzfrei<br />
28 und auch das Bücherwissen nähere sich niemals so<br />
sehr der Wahrheit, wie die einfachen Räsonnements, die ein<br />
Mensch mit seinem Bon Sens die Dinge betreffend anstellen<br />
könne, die sich ihm präsentieren. 29<br />
Das Zufällige und das Gewöhnliche, das unsere Gegenwart<br />
auszeichnet, muss in Zweifel gezogen werden, um sich<br />
durch eine Entscheidung selbst bestimmen zu können. 30<br />
Den Anfang muss eine Reflexion darüber bilden, wie man<br />
überhaupt die Erkenntniskraft auf etwas richtet. 31 Dieser<br />
erste, autonome Denkakt ist eher ein Prozess als eine plötz-<br />
32 – Descartes AT VI, S. 22f.<br />
33 – Descartes AT X, S. 364.<br />
34 – Ernst Cassirer formuliert: «Die ‹ewigen<br />
Wahrheiten› wären anders geworden, wenn<br />
es dem ursprünglichen und absolut freien<br />
Schöpfungsakt Gottes, der durch nichts<br />
gebunden war, gefallen hätte, sie zu etwas<br />
anderem zu machen.» Ernst Cassirer, René<br />
Descartes, Hamburg 1995, S. 61 f.<br />
35 – Bei diesen selbstgegebenen Regeln folgt die<br />
Vernunft der Intuition. Vgl. Descartes AT X,<br />
S. 368 und S. 373.<br />
36 – Vgl. Descartes AT I, S. 152; AT IV, S. 118; AT<br />
VII, 435 ff.<br />
37 – Vgl. Descartes AT I, S. 145f; AT VIII, S. 380.<br />
38 – Vgl. Descartes AT IV; AT VII, S. 57.<br />
39 – Vgl. Descartes AT VI, S. 19.<br />
liche Creatio ex Nihilo. Er ist vergleichbar der Architektur,<br />
die ihre eigenen Fundamente legt. 32 Diese Grundlegung<br />
durch den Vernunftakt ist prinzipiell voraussetzungslos und<br />
jedermann möglich. Durch methodisch angeleitete Erkenntnis<br />
lässt sich sodann alles Wissbare erlernen, auch in den<br />
Künsten, insofern diese auf Vernunftprinzipien bezogen<br />
sind. Doch reine Gelehrsamkeit ist Eitelkeit, Selbstbetrug<br />
und ein Geschäft. Wie jede Unterwerfung unter eine Autorität<br />
ist sie gebunden an die Disziplin, an die Zuchtrute.<br />
Dagegen hilft nur Autonomie. Man muss sich selbst Regeln<br />
vorschreiben, schreibt Descartes, («nobis ipsis regulas proponere»<br />
(wörtl. vorschlagen) 33 , um zur menschlichen Weisheit<br />
zu gelangen.<br />
Für den rationalistischen Universalismus, wie Descartes<br />
ihn formuliert, sind die Grundprinzipien der Logik und<br />
die Axiome der Mathematik keine evidenten Wahrheiten<br />
aufgrund einer inneren Notwendigkeit 34 , sondern pragmatische<br />
Gewissheitsregeln 35 . Gott hätte, wie Descartes in<br />
einem Brief an Mersenne schreibt, durch ein freies Dekret<br />
eine andere Logik verordnen können. 36 Der göttliche Wille<br />
schwankt allerdings nicht zwischen verschiedenen Entscheidungen<br />
hin und her, sondern schafft in einem einzigen<br />
Akt die Welt der Ideen und die der Dinge, die Welt der<br />
Wahrheit und die Welt der Wirklichkeit. 37 Diesen Akt wiederholt<br />
das menschliche Denken. Denn wenn wir in der<br />
Entscheidung die Spontaneität des Freien Willens ausüben,<br />
hören wir auf, Untertanen zu sein: Wir handeln souverän<br />
und kreativ. 38 Freiheit ist für Descartes nicht die<br />
Indifferenz des Wählenkönnens. Für Descartes bin ich<br />
gerade dann frei, wenn ich weiss, was ich zu wählen habe:<br />
wenn meine Neigung fest steht, weil mein Urteil geleitet<br />
vom Wahren unumstösslich ist, und wenn ich daraufhin<br />
eine Entscheidung treffe, dann bin ich frei. Es bedarf also<br />
keiner Alternative, sondern nur eines klar gefassten Entschlusses.<br />
Durch Experimente setzt sich die entscheidende<br />
Vernunft von den äusseren Erscheinungen ab. Gegen Kepler<br />
und Dürer argumentiert Descartes, es gebe keine<br />
«natürliche Geometrie» und auch die Perspektive enthülle<br />
keine versteckte Ordnung des Universums: Der Raum werde<br />
erst von tastenden Stöcken, gezeichneten Linien und<br />
eingebildeten Fluchten, d. h. in einem kreativen Denkakt<br />
des Bon Sens geschaffen. 39<br />
Bisher hat die Forschung übersehen, dass es genau diese<br />
Vernunftkonzeption Descartes’ ist, aus der die moderne<br />
Kunstpraxis, noch vor der Disziplinierung innerhalb des<br />
ästhetischen Regimes, ihren Ausgangspunkt nimmt: Es ist<br />
eine wilde und universalisierende Vernunft, die die moderne<br />
Kunst hervorbringt. Was genau unterscheidet denn die<br />
Ästhetik, die unter diesem Begriff nicht zufällig erst im<br />
18. Jahrhundert entsteht, von den klassischen Regelpoetiken,<br />
die sich in der Nachfolge Platons und Aristoteles’