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Ann<br />
Cotten<br />
Christian<br />
Filips<br />
Florian<br />
Neuner<br />
Monika<br />
Rinck<br />
93<br />
Pathos<br />
mobilisieren<br />
Ann Cotten<br />
Da hat die Form eine Vermittlungsfunktion,<br />
z. B. als Sonettenkranz über die Stricherszene<br />
von Lissabon in den siebziger Jahren, die<br />
mich vielleicht als formloser Bericht nicht<br />
locken würde, weil ich selbst nicht genügend<br />
Identifikationspotential finden würde. Dann<br />
kann ich mich mit der Form identifizieren und<br />
schlüpfe da hinein mit Hilfe dieses<br />
Sonettenkranzes.<br />
Christian Filips<br />
Aber die Form, die man verwendet, ist ja<br />
Träger der Semantik, die in dieser Form historisch<br />
bereits vorgeprägt ist. Und wenn ich<br />
z. B. Sonette schreibe, kann ich diese ganze<br />
Liebessemantik nicht ausblenden. Man wird<br />
mir automatisch unterstellen, dass das hineinspielt.<br />
Also werde ich die Gedichte dann<br />
auch daraufhin lesen. Aber wenn ich das<br />
Gefühl habe, das wird hier gar nicht verhandelt<br />
… also, sagen wir z. B. Franz Josef Czernin:<br />
Das ist ja eine Formalisierung des Prinzips<br />
— eine ziemlich grosse Reduktion von<br />
Semantik, von Referenz, von Erfahrung.<br />
Florian Neuner<br />
Czernin hat ja auch keine Themen, sondern<br />
höchstens Wortfelder.<br />
Christian Filips<br />
Jetzt würde ich aber sagen: Das Sonett<br />
selbst ist ein Thema und trägt einen Hof von<br />
Semantik mit sich. Und das ist bei Czernin<br />
nicht wirklich reflektiert. Oder wie kaltgestellt,<br />
Angst?<br />
Monika Rinck<br />
Es gibt natürlich immer extreme Differenzen<br />
zwischen Form und Inhalt. Als die französische<br />
Synchronschwimm-Mannschaft den<br />
Holocaust schwimmen wollte, hiess es, das ist<br />
kein Wasserballett, das darf nicht gemacht<br />
werden. Das ist nicht die angemessene Form.<br />
Dann müsste man sich fragen: Was ist die<br />
angemessene Form?<br />
Christian Filips<br />
Dabei würden wir das so gerne sehen!<br />
Florian Neuner<br />
Aber Angemessenheit könnte doch ein<br />
ästhetisches Kriterium sein, wenn man sich<br />
z. B. vorstellt: Man ist kein Lyriker, der sowieso<br />
immer nur Gedichte schreibt, sondern<br />
man hat ein Thema oder einen Problemzusammenhang<br />
und wählt dann eine Form.<br />
Und dann gibt es Gründe, das Gedicht als<br />
Form zu wählen oder nicht.<br />
Ann Cotten<br />
Vielleicht kenne ich Gefahren, die in der Gedichtform<br />
liegen, dass man sich in das Formale einspinnt. Manchmal<br />
merke ich, dieses oder jenes in Gedichtform darzustellen<br />
ist eine Verharmlosung. Ich sollte lieber Prosa wählen, weil<br />
das ein bisschen durchsichtiger ist für diese nackte Stimme,<br />
die für dieses Thema wichtig ist.<br />
Christian Filips<br />
Wenn man so eine gewisse Schönheit zulässt, eine<br />
Schwelgerei, auch eine formale Schwelgerei, dann habe ich<br />
z. B. die Neigung, eine Analyse dagegenzusetzen, die mir da<br />
in den Karren fährt.<br />
Ann Cotten<br />
Ich finde, es ist oft auch eine Entscheidung, ob ich jetzt<br />
eine SMS oder ein Gedicht schreibe. Nehme ich dieses Problem,<br />
diese Frage für mich, mache etwas daraus und veröffentliche<br />
es später oder bleibe ich in der Aktion drin und<br />
schiebe die Reflexion auf?<br />
Monika Rinck<br />
Das ist genauso wie Frank O’Haras personism: «Instead<br />
of writing a poem I just called him.»<br />
Florian Neuner<br />
Wenn wir die formale Seite unter politischen Voraussetzungen<br />
betrachten, dann könnten wir uns daran erinnern,<br />
dass es in der Neoavantgarde der sechziger Jahre die Auffassung<br />
gegeben hat, man müsse zuerst die Sprache revolutionieren<br />
und z. B. enthierarchisieren — als sozusagen<br />
Vorschein einer sinnvoller eingerichteten Welt.<br />
Monika Rinck<br />
Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen enthierarchisierter<br />
Sprache und der Gesellschaft? Ich habe mir neulich<br />
mal die Vorrede von Adorno anlässlich der Lesung von<br />
Hans G Helms angesehen. 4 Was der sagt, würde sich heute<br />
niemand trauen. Die würden sagen: Das ist elitistisch, ein<br />
Anti-Demokrat! Und Adorno sagt: Wir brauchen, um das zu<br />
verstehen, eine neue Kunst-Philosophie. Basta. Zack.<br />
Ann Cotten<br />
Ich finde, dieses Kriterium experimentell oder nichtexperimentell<br />
ist manchmal eine Schein-Unterscheidung.<br />
Nach wem richtet man sich eigentlich? Macht man experimentelle<br />
Literatur, weil man diesen experimentellen Helden<br />
gefallen will oder macht man es, weil man es am transparentesten<br />
findet? Was ist denn eigentlich Transparenz?<br />
Hat es nicht zum Beispiel als Transparenz von den irren<br />
Aktionen von Banken oder vom englischen Königshaus<br />
auch etwas völlig Höhnisches? Der Machtlose darf alles<br />
sehen, weil er sowieso keinen Zugriff darauf hat. In diesem<br />
Soziotop der Literatur kann man quasi drin bleiben und<br />
einen Ehrgeiz entwickeln, sich peers suchen und Leute, die<br />
das lesen und beurteilen. Oder man kann ein hohes Niveau<br />
an Sprache entwickeln, das man auch für kompatibel mit<br />
dem Rest der Welt hält. Man möchte fein sprechen und<br />
auch einer Kneipe gefallen.<br />
4 – Theodor W. Adorno, «Voraussetzungen»,<br />
in ders.,<br />
Noten zur Literatur (Gesammelte<br />
Schriften 11), Frankfurt<br />
a. M. 1997, S. 431–446.