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Alexander<br />

García<br />

Düttmann<br />

Alexander García Düttmann<br />

Meine Geburt<br />

Für eine<br />

Ästhetik der<br />

Interesselosigkeit<br />

151 Ästhetische Theorien, die nach der Zeit fragen, müssen nach der<br />

Geburt fragen, danach, wie etwas in der Kunst zum Leben<br />

Meine<br />

Geburt<br />

geweckt wird, an einen Lebensnerv rührt. Die Frage der Zeit als<br />

Frage nach der Geburt ist aber nicht nur für den Künstler, sondern<br />

auch für den Philosophen bedeutsam: als Frage nach einem<br />

Namen, durch den und in dem Gerufenes oder Benanntes zum<br />

Leben geweckt wird.<br />

Wie begreifen Philosophen die Geburt? Sie drängen auf eine<br />

zweite Geburt. Denn erst mit der zweiten Geburt hat man die<br />

Zufälligkeit der ersten abgestreift. Nach der ersten Geburt trägt<br />

man nur einen zufälligen, nicht einen notwendigen oder allgemeinen,<br />

einen wahren Namen. Man ist eigentlich noch nicht am<br />

Leben. Die Zeit der Geburt erstreckt sich also für den Philosophen<br />

zwischen zwei Geburten, ist eine Vorzeit des Lebens. Man<br />

muss erst noch geboren werden, weil man immer schon geboren<br />

ist. Man muss erst noch an der Zeit teilhaben, weil man immer<br />

schon an der Zeit teilhat.<br />

Was ist dagegen die Geburt des Künstlers? Der Künstler hat<br />

stets eine Erinnerung an die Zeit vor der zufälligen Geburt. Als<br />

Künstler ist er nämlich ansichtslos, wird er nicht von dem Interesse<br />

an einer bestimmten und beschränkten Ansicht der Welt —<br />

der anderen, der Dinge, seiner selbst in der Welt — geleitet, das<br />

ihn von einer zufälligen Geburt abhängig macht. Weil er jedoch<br />

ansichtslos ist, der Name in der Kunst das Genannte zum Leben<br />

weckt, die Geburt durch den Künstler statthat, nicht durch seinen<br />

beschwörenden Willen, sondern dadurch, dass er etwas vernimmt,<br />

zum Beispiel ein Wort, als wäre es der Name der Sache<br />

selbst, geht es dem Künstler nie um die Nachträglichkeit der<br />

Geburt oder um eine zweite Geburt. Seine Interesselosigkeit<br />

ermöglicht es, dass jede Geburt «seine» Geburt ist, die Geburt<br />

der Sache in der Kunst und als Kunst.<br />

Ästhetische Theorien, die nach der Zeit fragen, müssen deshalb<br />

immer auch Ästhetiken der Interesselosigkeit sein. 1<br />

1 – In jüngster Zeit haben sich sowohl<br />

Jean-Luc Nancy (Le plaisir au dessin,<br />

2007) als auch Jacques Rancière<br />

(Aisthesis, 2011) einer Ästhetik<br />

des Schönen oder der Lust am<br />

Schönen, die bei Kant ja eine Ästhetik<br />

der Interesselosigkeit ist,<br />

zugewandt.<br />

2 – Hannah Arendt, The Human<br />

Condition, Chicago 1989, S. 176.<br />

3 – Ebd., S. 178.<br />

4 – G.W.F. Hegel, Wissenschaft der<br />

Logik, Theorie-Werkausgabe, Band<br />

6, Frankfurt a. M. 1969, S. 303. «Der<br />

Mensch muß zweimal geboren werden,<br />

einmal natürlich und sodann<br />

geistig», behauptet Hegel<br />

in seinen religionsphilosophischen<br />

Vorlesungen. Denn der Geist ist<br />

nicht «unmittelbar», sondern nur,<br />

«wie er sich aus sich gebiert; er ist<br />

nur als der Wiedergeborene».<br />

(G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die<br />

Philosophie der Religion, Theorie-<br />

Werkausgabe, Band 17, Frankfurt<br />

a. M. 1969, S. 323) Den Topos der<br />

doppelten Geburt hat in jüngster<br />

Zeit auch Stanley Cavell aufgenommen:<br />

dort, wo er von den «remarriage<br />

comedies» handelt, das Filmpaar<br />

ein zweites Mal heiraten muss,<br />

um wirklich als verheiratetes leben<br />

zu können. Denn die erste Heirat ist<br />

nur das Ergebnis einer Überwindung<br />

äusserer Umstände und bietet<br />

eine Gelegenheit für die Entdeckung<br />

«innerer Widerstände», die es<br />

noch zu überwinden gilt (Stanley<br />

Cavell, Cities of Words, Cambrige<br />

(Mass.) 2004, S. 381).<br />

5 – Hegel 1969, S. 305.<br />

6 – Hannah Arendt und Martin<br />

Heidegger, Briefe 1925–1975,<br />

Frankfurt a. M. 1998, S. 184.<br />

7 – Martin Heidegger, Sein und Zeit,<br />

Tübingen 1979, S. 390 f.<br />

8 – Ebd., S. 384.<br />

9 – Ebd., S. 383.<br />

10 – Ebd., S. 384 f.<br />

11 – Rosa Chacel, Desde el amanecer,<br />

Madrid 1992, S. 11.<br />

12 – Ebd., S. 9 f.<br />

13 – Ebd., S. 11.<br />

14 – Ebd., S. 13.<br />

15 – Ebd., S. 12.

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