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I<br />
«Mit Wort und Tat fügen wir uns in die menschliche Welt<br />
ein, und diese Einbeziehung ist wie eine zweite Geburt,<br />
durch die wir die nackte Tatsache unseres ursprünglichen<br />
körperlichen Erscheinens bestätigen und auf uns nehmen»,<br />
2 schreibt Hannah Arendt in The Human Condition.<br />
Kurz darauf heisst es über Rede und Handlung, also Wort<br />
und Tat:<br />
«Wenn die Handlung als ein Anfang dem Umstand der Geburt<br />
entspricht, wenn sie die Erfüllung der menschlichen Bedingung<br />
des Geborenwerdens ist, so entspricht die Rede dem Umstand<br />
des Unterschiedenseins und ist die Erfüllung der menschlichen<br />
Bedingung der Vielfältigkeit, will sagen: eines Lebens, das man<br />
als ein unterschiedenes und einzigartiges Wesen unter Gleichen<br />
führt.» 3<br />
In dem Abschnitt über das Urteil seiner Wissenschaft der<br />
Logik schreibt Hegel:<br />
«Der Name aber steht der Sache oder dem Begriffe gegenüber;<br />
diese Unterscheidung kommt an dem Urteile als solchem selbst<br />
vor; indem das Subjekt überhaupt das Bestimmte und daher<br />
mehr das unmittelbar Seiende, das Prädikat aber das Allgemeine,<br />
das Wesen oder den Begriff ausdrückt, so ist das Subjekt als<br />
solches zunächst nur eine Art von Name; denn was es ist, drückt<br />
erst das Prädikat aus, welches das Sein im Sinne des Begriffs<br />
enthält. Was ist dies, oder was ist dies für eine Pflanze, usf.? —<br />
unter dem Sein, nach welchem gefragt wird, wird oft bloß der<br />
Name verstanden, und wenn man denselben erfahren, ist man<br />
befriedigt und weiß nun, was die Sache ist. Dies ist das Sein im<br />
Sinne des Subjekts. Aber der Begriff oder wenigstens das Wesen<br />
und das Allgemeine überhaupt gibt erst das Prädikat, und nach<br />
diesem wird im Sinne des Urteils gefragt.» 4<br />
Hegel führt dann folgende Beispiele an:<br />
«Drückt das, was vom einzelnen Subjekt gesagt wird, selbst nur<br />
etwas Einzelnes aus, so ist dies ein bloßer Satz. Z. B. ‹Aristoteles<br />
ist im 73. Jahre seines Alters, in dem 4. Jahr der 115. Olympiade<br />
gestorben› ist ein bloßer Satz, kein Urteil. Es wäre von<br />
letzterem nur dann etwas darin, wenn einer der Umstände, die<br />
Zeit des Todes oder das Alter jenes Philosophen in Zweifel<br />
gestellt gewesen, aus irgendeinem Grunde aber die angegebenen<br />
Zahlen behauptet würden. Denn in diesem Falle würden<br />
dieselben als etwas Allgemeines, [als die] auch ohne jenen<br />
bestimmten Inhalt des Todes des Aristoteles bestehende, mit<br />
anderem erfüllte oder auch leere Zeit genommen. So ist die<br />
Nachricht, ‹mein Freund N. ist gestorben› ein Satz und wäre<br />
nur dann ein Urteil, wenn die Frage wäre, ob er wirklich tot oder<br />
nur scheintot wäre.» 5<br />
In einer Ansprache, die Arendt aus Anlass von Martin Heideggers<br />
achtzigstem Geburtstag gehalten hat, sagt sie:<br />
«Wir sind so an die alten Entgegensetzungen von Vernunft und<br />
Leidenschaft, von Geist und Leben gewöhnt, daß uns die Vorstellung<br />
von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken<br />
und Lebendigsein eins werden, einigermaßen befremdet. Heidegger<br />
selbst hat einmal dies Einswerden — einer gut bezeugten<br />
Anekdote zufolge — in einem einzigen lapidaren Satz ausgedrückt,<br />
als er zu Beginn einer Aristoteles-Vorlesung statt der<br />
üblichen biographischen Einleitung sagte: ‹Aristoteles wurde<br />
geboren, arbeitete und starb.›» 6<br />
Ein Datum und ein Name sind so abstrakt wie blosse Sätze.<br />
Die Aufgabe des Philosophen beginnt erst dort, wo ein<br />
Satz zu einem Urteil wird und dadurch ein Allgemeines<br />
einführt, die Abstraktion zu etwas Konkretem macht,<br />
indem das Allgemeine sie von ihrer Unmittelbarkeit befreit,<br />
oder dort, wo das Leben zu einem Ausdruck des Denkens<br />
wird, wo es also aufhört, ein lediglich natürliches Leben zu<br />
sein und in ein geistiges übergeht. Geburt und Tod werden<br />
von der Abstraktion des Datums und des Namens in dem<br />
Masse bestimmt, ja sie sind in dem Masse beispielhaft für<br />
die Abstraktion als Geburts- und Todestag meinem Leben<br />
äusserlich bleiben müssen. Mein Geburtstag ist der Tag, an<br />
dem jemand, der meinen Namen trägt, der ich aber eigentlich<br />
nicht bin und nicht sein kann, der eigentlich nicht ich<br />
oder ich selbst war, angefangen hat zu leben; mein Todestag<br />
ist der Tag, an dem jemand, der meinen Namen trägt,<br />
der ich aber eigentlich nicht bin und nicht sein kann, der<br />
eigentlich nicht ich oder ich selbst sein werde, zu leben<br />
aufhört.<br />
Ein Versuch der Philosophie, die Frage der Geburt zu<br />
stellen, der Geburt als «meiner Geburt», des Datums, das<br />
mehr ist als ein blosses Datum, des Namens, der mehr ist<br />
als der Name eines anderen; ein Weg, auf dem die Philosophie<br />
oder das Denken versucht haben, die Geburt einzuholen,<br />
lässt sich in Heideggers Sein und Zeit ausmachen. In<br />
dem Paragraphen über die «Geschichtlichkeit des Daseins<br />
und die Welt-Geschichte» liest man:<br />
«Die Entschlossenheit des Selbst gegen die Unständigkeit der<br />
Zerstreuung ist in sich selbst die erstreckte Ständigkeit, in der<br />
das Dasein als Schicksal Geburt und Tod und ihr ‹Zwischen› in<br />
seine Existenz ‹einbezogen› hält, so zwar, daß es in solcher Ständigkeit<br />
augenblicklich ist für das Welt-Geschichtliche seiner<br />
jeweiligen Situation. In der schicksalhaften Wiederholung<br />
gewesener Möglichkeiten bringt sich das Dasein zu dem vor ihm<br />
schon Gewesenen ‹unmittelbar›, das heißt zeitlich ekstatisch<br />
zurück. Mit diesem Sichüberliefern des Erbes aber ist dann die<br />
‹Geburt› im Zurückkommen aus der unüberholbaren Möglichkeit<br />
des Todes in die Existenz eingeholt, damit diese freilich nur<br />
die Geworfenheit des eigenen Da illusionsfreier hinnehme.» 7<br />
Viel hängt beim Verständnis dieser Stelle davon ab, was<br />
«Schicksal» hier bedeuten soll; deshalb sei ergänzend eine<br />
frühere Stelle angeführt:<br />
«Je eigentlicher sich das Dasein entschließt, das heißt unzweideutig<br />
aus seiner eigensten, ausgezeichneten Möglichkeit im<br />
Vorlaufen in den Tod sich versteht, um so eindeutiger und unzufälliger<br />
ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner Existenz.<br />
Nur das Vorlaufen in den Tod treibt jede zufällige und ‹vorläufige›<br />
Möglichkeit aus. Nur das Freisein für den Tod gibt dem<br />
Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in ihre Endlichkeit.<br />
Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der<br />
endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten<br />
des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück<br />
und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals.<br />
Damit bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit<br />
liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich<br />
frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl<br />
gewählten Möglichkeit überliefert.» 8<br />
Indem es frei und entschlossen eine «gewesene» Möglichkeit<br />
wählt, eine Möglichkeit, die nicht einfach dem «vor<br />
ihm schon Gewesenen» zugehört, indem es die Wahl einer<br />
«ererbten» Möglichkeit trifft, kann das Dasein an einer<br />
Überlieferung teilnehmen, die es selber schafft. So hört die<br />
Geburt auf, nichts als die Schwelle des Lebens zu sein; so<br />
gelingt es dem Dasein, die Geburt in seine eigene Existenz<br />
«einzubeziehen»; so wird die Geburt zu «meiner Geburt».<br />
Damit die Geburt mehr sein kann als ein abstraktes, dem<br />
Denken fremdes oder äusserliches Datum, eine ursprüngliche<br />
Zerstreuung, muss das Dasein teilnehmend eine<br />
Überlieferung schaffen, ein Erbe. Wenn dieses Schaffen<br />
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