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Erich<br />
Hörl<br />
Jörg<br />
Huber<br />
15<br />
Technoökologie<br />
und<br />
Ästhetik<br />
Votum und letztlich auch sein Votum<br />
für das Immanenzdenken müssen hier<br />
wirklich streng geschichtlich gelesen<br />
werden, anders als das seine Anhänger_innen<br />
normalerweise tun. Die<br />
Geschichtlichkeit zeigt sich nicht<br />
zuletzt tief bis in seine eigenen Begrifflichkeiten<br />
hinein, die neokybernetisch<br />
geprägt sind. Emergenz und Autopoiesis,<br />
die Schlüsselwörter der second<br />
order-Kybernetik, werden insbesondere<br />
beim späten Guattari nachgerade zu<br />
ontologischen Schlüsselkategorien.<br />
Guattari kann die dritte Formation seiner<br />
Erzählung von der Subjektivität<br />
und vom neuen ästhetischen Paradigma,<br />
in deren Heraufkunft wir uns<br />
befinden, überhaupt nur in diesen<br />
Begriffen formulieren, mit denen ihn<br />
wohl in erster Linie der Maschinentheoretiker<br />
und Medienphilosoph Pierre<br />
Lévy bekanntgemacht hat, er untersteht<br />
strenggenommen der neokybernetischen<br />
Hypothese, dem neokybernetischen<br />
Wahrheitsregime, das ist<br />
nicht unproblematisch und verlangt<br />
jedenfalls nach kritischer Bearbeitung.<br />
13 Aber hier kommt es mir<br />
zunächst nur darauf an, dass er stärker<br />
als die meisten anderen die Notwendigkeit<br />
einer ontologischen Neubeschreibung<br />
sieht, einer Neubeschreibung,<br />
zu der uns die technisch-mediale<br />
Entwicklung und die davon ins<br />
Werk gesetzte Verallgemeinerung des<br />
Ästhetischen schlichtweg zwingen.<br />
Wenn wir die ontologische Frage<br />
ernst nehmen, die mit dem Auftauchen<br />
neuerer technisch-medialer<br />
Subjektivierungsmilieus verbunden<br />
ist, dann ist das neue ästhetische<br />
Paradimga eigentlich — das wird<br />
13 – Grundsätzlich zur neokybernetischen<br />
Hypothese<br />
vgl. Erich Hörl, «Luhmann,<br />
the Non-trivial Machine<br />
and the Neocybernetic<br />
Regime of Truth», in: Theory,<br />
Culture & Society<br />
(forthcoming).<br />
14 – Bernard Stiegler, «De la<br />
misère symbolique, du contrôle<br />
des affects et de la<br />
honte que cela constitue»,<br />
in: ders., De la misère symbolique.<br />
1. L’époque hyperindustrielle,<br />
Paris 2004,<br />
S. 17–40, hier S. 23. Stieglers<br />
Ästhetik, auch etwa in<br />
Absetzung von Rancières<br />
Reformulierung der ästhetisch-politischen<br />
Frage,<br />
habe ich ausführlicher<br />
behandelt in: «Wunsch und<br />
Technik. Stieglers Genealogie<br />
des Begehrens», in:<br />
Bernard Stiegler, Hypermaterialität<br />
und Psychomacht,<br />
hrsg. v. Erich Hörl, Zürich<br />
2010, S. 7–33, hier insb.,<br />
S. 26–33.<br />
Dich jetzt vielleicht überraschen —<br />
zuallererst als ökologisches Paradigma<br />
zu begreifen. Ich möchte in der<br />
Tat Guattaris Analyse und den skizzierten<br />
Auszug aus der modernen<br />
Segmentarisierung genau in diese<br />
Richtung weiterführen. Es reicht<br />
nämlich nicht, auf die Priorisierung<br />
des Affektiven hinzuweisen und zu<br />
betonen, dass wir es zunehmend mit<br />
affektiven Medien zu tun haben, die<br />
vor bzw. unterhalb der Wahrnehmung<br />
und Erfahrung von Subjekten operieren<br />
und insbesondere die modernen<br />
Segmentarisierungen des Seins unterminieren,<br />
affektive Steuerungsprozesse<br />
implementieren, im schlimmsten<br />
Falle affektive Gleichschaltungen<br />
bzw. psychopolitische Modulationen<br />
der Seele unternehmen etc.<br />
( — Und ich füge in einer grossen<br />
Klammer hinzu: Genau dieses neue<br />
ästhetische Regime hat Brian Massumi<br />
im Detail beschrieben; und auch Stieglers<br />
Kritik der zeitgenössischen Psychomacht<br />
und der neuen Ästhetik<br />
gehört genau hierher, neue Ästhetik,<br />
die jedenfalls bei Stiegler insgesamt in<br />
die symbolische Misere einer total<br />
hyperindustriellen Besetzung und Proletarisierung<br />
des Wunsches mündet<br />
und am Ende in eine Destruktion und<br />
Depravation von ästhetischer Erfahrung<br />
bzw. Erfahrbarkeit überhaupt, in<br />
die ästhetisch-politische Katastrophe:<br />
«Au XXe siècle», so Stiegler, «une<br />
esthétique nouvelle s’est mise en place,<br />
fonctionalisant la dimension affective<br />
et esthétique de l’individu pour en faire<br />
en consomateur.» 14 Wenn die ästhetische<br />
Frage bei Stiegler nun überhaupt<br />
als die politische Frage der Gegenwart<br />
erscheint, dann weil diese Frage an die<br />
Zukunft des Wunsches und der<br />
gemeinsamen Erfahrung bzw. der<br />
Erfahrung des Gemeinsamen im Sinne<br />
einer ästhetischen, affektiven, sensiblen<br />
Gemeinschaft rührt. Wir befinden<br />
uns im ästhetisch-industriellen Krieg,<br />
der auf der Grundlage und mit den<br />
Mitteln der neuen affektiven Medientechnologien<br />
stattfindet und die grosse<br />
Frage ist, ob die Industrie, genauer: die<br />
Hyperindustrie, die die Psychen ästhetisch<br />
moduliert, den Sieg im Kampf um<br />
den Affekt, und d. h. die Affektkontrolle,<br />
davonträgt oder ob sich andere,<br />
neue Formen ästhetischer Tätigkeiten<br />
und Praxen auf medientechnologischer<br />
Grundlage dagegen behaupten und<br />
etablieren können. Das ist der entscheidende<br />
Punkt von Stieglers Pharmakologie<br />
des Ästhetischen. — )<br />
Um nun die These wiederaufzunehmen<br />
und zu erläutern, dass das<br />
neue ästhetische Paradigma als ökologisches<br />
Paradigma aufzufassen ist:<br />
Das Neudenken von Affektion und die<br />
Neubeschreibung der hyperästhetischen<br />
Gefüge, die hier zum Verständnis<br />
der gegenwärtigen technischmedialen<br />
Kondition notwendig werden,<br />
ganz einfach weil die neueren<br />
technisch-medialen Anordnungen<br />
(etwa im Unterschied zu Technologien<br />
der Schrift) in erster Linie auf der<br />
affektiven und nicht mehr auf der symbolischen<br />
Ebene operieren, sie führen<br />
uns direkt hinüber in eine radikale<br />
ökologische bzw. technoökologische<br />
Ontologie, um nicht, wie Guattari, von<br />
Ökosophie zu sprechen, was mir etwas<br />
zu stark tiefenökologisch besetzt zu<br />
sein scheint. In ihrer Formulierung<br />
liegt heute eine der zentralen Aufgaben<br />
von Kritik! Guattaris späte allgemein-ökologische<br />
Wende, wie ich sie<br />
nennen möchte und die sich am klarsten<br />
in dem leider so miserabel ins<br />
Deutsche übersetzten Manifest Les<br />
trois écologies darstellt, die aber bei<br />
ihm natürlich schon viel länger zum<br />
Ausdruck drängt und sich in viele der<br />
späteren Texte einschreibt, scheint mir<br />
in genau diese Richtung einer neuen<br />
relationalen Ontologie zu gehen, auch<br />
wenn genau diese Zuspitzung der Frage<br />
in den 1980er Jahren sicherlich so<br />
noch nicht abzusehen war. Unter Ökologie<br />
ist hier wohlgemerkt eine «ecology<br />
w<strong>ith</strong>out nature» zu verstehen, wie<br />
Timothy Morton es formuliert hat, will<br />
sagen eine nicht-, eine unnatürliche<br />
Ökologie, eine Ökologie nicht im Sinne<br />
der gleichnamigen biologischen<br />
Disziplin und auch nicht im Sinne<br />
ökologischen Wissens, aber auch nicht<br />
im Sinne eines ontologischen Triebs<br />
des Heilen, Unversehrten, zu Bewahrenden,<br />
von dem Derrida einmal<br />
sprach und der unter dem Titel Ökologie<br />
ubiquitär geworden ist, zur neuen<br />
Religion und Ideologie. Sondern viel<br />
grundsätzlicher: Ökologie als neue<br />
Denk- und Beschreibungsweise, als<br />
neues Bild des Denkens, das auch ein<br />
neues Bild des Seins impliziert und<br />
umgekehrt, beide radikal relational,<br />
relationistisch und anti-humanistisch.<br />
Wenn Husserls einmal sagte, in<br />
irgendeiner Einstellung und in irgendeinem<br />
Stil lebt die Menschheit immer,<br />
dann wäre die Ökologie unsere neue<br />
Einstellung und unser neuer Normalstil,<br />
der unsere Epoche charakterisiert<br />
und auch unsere Zukunft sein wird.<br />
Das müssen wir erst noch begreifen.<br />
All das ist für mich in der zeitgenössischen<br />
ästhetischen Frage und sei es als<br />
ihr Horizont impliziert.